Forschung

„Die Palliativversorgung in Deutschland“ – ein Vortrag von Lukas Radbruch

Veröffentlicht am
© Edith Buchhalter 2019

Niemand hat den Tod erlebt und könnte davon berichten, aber jeder Mensch weiß, dass er sterben wird. Diese Leerstellenparadoxie der menschlichen Existenz wird gefüllt mit Ritualen, besonderen Umgangsweisen und Szenerien, mit spezieller Musik und mit der Gestaltung bestimmter Orte. Aber der Sterbeprozess als wissenschaftliches Thema ist in der heutigen Gesellschaft, in der Selbstoptimierung und Technisierung vorherrschen, eher ungewöhnlich. Immer noch sprechen Menschen nicht gerne über das Sterben, obwohl es laut einer Studie des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes bei einem großen Teil der Bevölkerung den Wunsch nach mehr Informationen zu und einer intensiveren Beschäftigung mit dem Thema gibt. Ein weiterer Blogbeitrag zum Sterben (nach diesem) erschien mir deshalb folgerichtig, auch, um das Thema in mein eigenes Leben, Arbeiten und Denken zu integrieren.

Palliative Versorgung meint die ganzheitliche, aktive Betreuung von Menschen mit unbehandelbaren Krankheiten, um diesen ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Lukas Radbruch beginnt seinen Vortrag mit vielen Informationen zum Begriff „Palliativmedizin“ und beschreibt die typische Arbeitsweise einschließlich vieler auftretender Probleme. Er ist Kliniker, und man merkt seinem Vortrag an, dass er seinen Arbeitsalltag auf einer Palliativstation verbringt und daher sehr lebendig, manchmal humorvoll, manchmal betroffen davon berichten kann.

Fasziniert hat mich beim Hören des Vortrags, wie Lukas Radbruch von medizinischen Informationen ausgehend immer mehr ganzheitliche und die gängige medizinische Auffassung verlassende Forschungsansätze präsentiert beziehungsweise verstärkt fordert. Ganz selbstverständlich wird z.B. beim Thema „Essen in der Sterbephase“ das kulturelle Bild von Versorgung als ein wesentlicher Faktor angesehen. So können viele Menschen in dieser Phase körperlich keine Nahrung mehr verwerten, aber die Freiheit, nicht mehr zu essen, muss erstritten werden gegen die gängige Vorstellung, man müsse doch essen, um zu Kräften zu kommen. Andererseits wird ein schwer verträgliches, fetthaltiges Essen, bei dem sofortiges Übergeben erwartet wird, genussvoll vertragen, da es von der Mutter zubereitet wurde. Hier wird die bedeutsame Beziehung zur Mutter selbstverständlich als Wirkfaktor angesehen. Entsprechend dieser Haltung werden Studien gefordert, in denen interdisziplinäre Strukturen zum Zuge kommen, mit sozial-, geistes- human- und naturwissenschaftlichen Ansätzen sowie Erforschung der Angehörigenbetreuung.

Berichtet wird auch von einer europaweiten empirischen Studie zum assistierten Suizid, in der übereinstimmend die Haltung vertreten wird, diesen nicht in die palliative Versorgung zu integrieren, sondern als ein konkurrierendes Angebot zu verstehen (in den Ländern, in denen das rechtlich möglich ist). Wichtig an dieser Stelle war für mich, dass Radbruch empfiehlt, wenn ein Patient einen Sterbewunsch äußert, zunächst nach der Motivation zu fragen, denn meist erwarten die Patienten in dieser Situation nicht mehr, als dass man ihnen zuhört und sie ernst nimmt. Das klingt einfach, ist aber weder im Berufsverständnis eines Arztes noch im Stationsalltag verankert. Wenn der betreuende Arzt überhaupt Zeit hat, will er oft den Sterbewunsch nicht hören, da er meint sonst den Psychiater rufen zu müssen. Radbruch aber hebt hervor, dass es in den Situationen meist eher um Akzeptanz für die aktuellen Empfindungen des Patienten geht, um Informationen zu Alternativen wie Symptomkontrolle und Sedationsmöglichkeiten und zu der Option, Flüssigkeit und Nahrung zu verweigern. Oder einfach darum aktuell die Sicherheit zu spüren, für einen späteren, schlimmeren Zustand noch etwas in der Hinterhand zu haben.

Vieles, was angesprochen wird, kann im Zusammenhang gesehen werden mit der in unserer Gesellschaft vorherrschenden Verdrängung von Tod und Sterben. Radbruch pointiert dies in der Frage, ob das Auto des Bestatters in einer Klinik die Toten am Hintereingang abholen muss, oder ob es am Haupteingang vorfahren darf. „Wer bei uns zum Haupteingang hereinkommt, soll dort auch wieder hinauskommen“, ist seine Meinung dazu.

Lukas Radbruch ist Professor für Palliativmedizin in Bonn und der Vortrag wurde 2018 gehalten während der Jahrestagung der Leopoldina, der Nationalen Akademie für Wissenschaften, zu finden hier (ab Minute 26) bei DLF Nova Hörsaal. Hier findet man einen weiteren Vortrag von Lukas Radbruch mit einer Fülle an medizinischen und klinischen Informationen rund um das Thema Sterben, der Titel lautet: „Wie ein Arzt das Sterben erlebt“.

An dieser Stelle möchte ich aus psychodynamischer Sicht den Band „Forum der Psychoanalyse“ 35/2019 empfehlen: „Zur Psychoanalyse des Alterns und Sterbens“, mit Beiträgen von Michael Ermann, Jakob Müller/Cecilie Loetz und anderen, hier kann man das Editorial von Timo Storck lesen.

Forschung

„Wiederkehr der Kindheit?“ – ein Vortrag von Jakob Müller

Veröffentlicht am
®Edith Buchhalter 2007

Menschen in der Sterbephase als Gegenstand einer psychoanalytisch-empirischen Untersuchung – dies rief zwiespältige Gefühle in mir wach. Die Kombination von Empirie und Psychoanalyse ist eher selten, machte mich also neugierig, der Prozess des Sterbens aber ist ein Thema, um das man gerne einen großen Bogen macht. Psychologisch gesehen kann man beim Tod eines Menschen bestimmte seelische Bewältigungsmechanismen genau beobachten, es gibt Überaktivisimus, Distanzierung, Ratlosigkeit, scheiternde Sublimierungen, Technokratisierungstendenzen und vieles mehr. Aber in der Beschäftigung mit dem Thema rückt auch sehr nahe, dass das eigene Sterben unabänderlich ist, eine oft im Alltag verdrängte Tatsache.

Jakob Müller spricht zu diesem Thema in seinem hier empfohlenen Vortrag mit einer überzeugenden Mischung aus klarer Darstellung des wissenschaftlichen Bezugsrahmens (Bindungstheorie) und der empirischen Vorgehensweise (teilnehmende Untersuchung auf der palliativmedizinischen Station eines Krankenhauses) sowie einfühlsamer Einzelfallschilderung. Kindheit und Sterbephase werden von ihm in verschiedenen polaren Dimensionen miteinander verglichen, hinsichtlich Aktivität – Passivität, Vertikalität (wer steht oben, wer liegt unten?), Analität (Kontrolle der Ausscheidungen), Oralität (kann man sein Essen selbständig zu sich nehmen?), und Sauerstoffversorgung (Nabelschnur und Beatmungsgerät). Sehr interessiert hat mich dabei die dezidierte Aussage, die Sterbephase ähnele der Kindheit in zwei entscheidenden Aspekten: seelische Grundkonflikte werden virulent und dyadische Beziehungen treten in den Vordergrund. Der triangulierende Raum verschwinde immer mehr, so wie er umgekehrt in der Kindheit von Anfang an fortschreitend in der Entwicklung erobert und gestaltet werden musste.

Kindheit und Sterbephase auf diese Art und Weise zusammen zu sehen eröffnete neue Sichtweisen. Die Sterbephase als eine traumatische Situation reaktiviert früh erworbene Bindungsmuster, die ja gerade in unsicheren Situationen deutlich hervortreten. Bindungstheoretisches Wissen kann daher hilfreich sein, diese Bindungsstile zu erkennen und damit umzugehen. Ausgehend von der Hypothese der Zeitlosigkeit von Mustern und Strukturen werden frühere Schichten freigelegt, es kommt zu regressiven Verhaltensweisen. Aber es sind auch rückwirkend korrigierende Erfahrungen möglich, die frühen Erfahrungen werden womöglich anders erinnert und in den Beziehungen zu Angehörigen und Betreuenden können Veränderungen ausprobiert werden: Distanzierungen überwinden, Schwäche zeigen, eigene Bedürfnisse deutlicher äußern und anderes mehr.

Sehr lebendig werden all diese Erkenntnisse im Vortrag durch den mit viel Wärme und dennoch professioneller Distanz geschilderten Einzelfall, dem Sterbeprozess eines Mannes, dem gegen Ende seines Lebens durch die Gestaltung des Sterbeprozesses auf der Station neue Begegnungen mit nahestehenden Menschen ermöglicht wurde.

Die Beschäftigung mit Bindung in der Sterbephase machte mir auch eine ganz spezielle Paradoxie spürbar. Die Mutter stellt in der Kindheit ein Versprechen dar: ich mache etwas zu essen für dich, ich halte dich warm, ich bin da, auch wenn du mich nicht siehst und du kannst beruhigt einschlafen, denn morgen früh wachst du wieder auf. In der letzten Lebensphase ist es eine große Herausforderung, zu den Sterbenden eine versorgend-warme, haltende, vielleicht sogar neue Aspekte anbietende Beziehung aufzubauen in dem klaren Wissen, dass der Tag, an dem der Sterbende nicht mehr aufwachen wird, greifbar nahe ist.

Den Vortrag empfehle ich auch, da in der heutigen säkularisierten Kultur psychotherapeutisch Tätige oft mit Aufgaben betraut sind, die eher seelsorgerischer Natur sind. Man kann es daher gut gebrauchen, sich mit dem Thema Sterben beschäftigt zu haben, denn es ist in vielen Behandlungen ‚mit im Raum‘, sei es dass jemand schwer erkrankt, Eltern sterben, Todesfälle in der Lebensgeschichte eine Rolle spielen oder eine Berufstätigkeit in diesem Bereich besteht.

Dr. Jakob Müller ist Dipl.-Psychologe und Psychoanalytiker und sein Vortrag, basierend auf seiner Dissertation, wurde gehalten am 05.10.2019 im Rahmen der Herbstakademie der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft an der Universität Heidelberg. Er ist hier als Podcast zu hören und die Buchveröffentlichung zur Dissertation mit dem Titel „Bindung am Lebensende“ (2018) ist hier zu erwerben.

Ausstellungen

„Schattenreich“ – eine Ausstellung von Simon Schubert im Museum Morsbroich

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Schattenreich (Sitzungsraum) 2019, © Simon Schubert

Zweimal habe ich die Ausstellung besucht, und jedesmal ließ mich die Frage nicht los, wie es den Schatten in Simon Schuberts Räumen ergeht, denn das Leben wird ihnen nicht leicht gemacht. Oft wird das Licht so manipuliert, gesteigert oder ausgeblendet, dass die Schatten mit viel Aufwand gesucht werden müssen. Jedenfalls denkt man das – bis man bemerkt, dass die Schatten im Grunde überall beteiligt sind, schmal, zart, graphitschwarz, angedeutet oder auch übermächtig.

Das Spiel von Licht und Schatten ist eine thematische Linie, entlang derer man die Ausstellung im Museum Morsbroich begehen kann. Ständig präsent sind die Faltungen in weißem Papier, die den zweidimensionalen Bildträger zu einem perspektivischen Raumgestalter werden lassen. Alle Wände der Graphiketage des Musuems Morsbroich sind damit verkleidet, sie reflektieren das künstliche Licht und bieten doch Ausfluchten daraus, da die Faltungen Räume vorspielen. Es sind schön anzusehende Perspektive-Tricks, denen man gerne folgt, da sich bald in den Räumen selbst eine schwer greifbare Beklemmung einstellt. Man möchte ihr entgehen, indem man nach einer Ordnung sucht, also z.B. in welcher Richtung man die Räume am sinnvollsten durchwandert. Oder indem man Spiegel-Spiele mit sich selbst oder anderen spielt, und mit gelöst-heiterer Stimmung dem Unheimlichen entgehen möchte. Aber das Licht mit seinem Gegenspieler „Nicht-Licht“ bleibt bestimmend für den Besuch der Ausstellung und man kann ihm nicht entkommen, so sehr man es auch versucht.

Eine andere Lesart des Schattenreiches wird durch „Dr. R.“ vorgegeben, eine mit Arztkittel und zuhörender Sitzhaltung versehene Figur mit Plüschhasenkopf. Durch ihn wird man auf die Fährte gesetzt, man betrete nun eine verkehrte Welt, wie bei Alices Spiegelwelt durch das Kaninchenloch (Lewis Carroll) oder wie bei Sigmund Freud die Welt des Unbewussten durch die Traumdeutung. Rahmen umschließen mehrere unregelmäßig gehängte Papierarbeiten oder sie sind winklig ineinander verdreht ohne ein Werk zu umfassen, ein Haus wird gewendet und auf der Giebelseite wieder aufgestellt, Treppenhäuser werden perspektivisch verzerrt gezeichnet. In einem dunklen Spiegelkabinett sieht man nicht sich selbst, wie man es aus der Szenerie erwarten könnte, sondern im Spiegel tauchen weitere Ausstellungsbesucher auf. Die ebenfalls vor dem Spiegel stehende gesichtslose Frau wirft die Frage auf, ob man sich selbst überhaupt im Spiegel erkennen kann, oder sind wir uns nicht auch immer etwas fremd?

Ausgehend von dem als Schlafzimmer erkennbaren Raum der Ausstellung findet man ein weiteres Thema: Was nimmt man wahr in einem extrem hellen Raum? Auf eine glatte Matratze sind Falten aufgebracht, die andeuten, dass das Bett benutzt worden ist und aus dem Nachbarzimmer schaut ein Mädchen auf das Bett, genauer gesagt, sie steht kurz vor der Türschwelle. Man nimmt ihre Blickrichtung zum Bett wahr, aber sie hat kein Gesicht, sondern nur zwei Rückseiten. Sie kann sich nicht abwenden von dem, was sie dort sieht oder auch erinnert. Besucher sind oft mit der genauen Betrachtung der Figur beschäftigt, sie fragen sich, ob sie einen Daumen hat oder nicht, ob das Haar echt ist und ob die Kleidung passt. All dies sind kognitive Verstehensversuche, die ablenken können vom dem Eindruck, es könnte dort etwas Beunruhigendes geschehen sein. Das Schlafzimmer verweist in seiner surrealen Lichtsituation auch auf künstlerische Experimente mit Zeit- und Raumlosigkeit, wie sie zum Beispiel in den letzten Sequenzen von Kubricks „2001: A Space Odyssey“ (1968) meisterhaft vorgeführt wurden. Auch in Schuberts Raum fühlt man sich schwebend und vollständig umfasst, oder auch geblendet und ohne Wärme, verschiedene Alterstufen begegnen oder überschneiden sich. Die Aufhebung von Zeit durch das popkulturelle Zitat und die Lichtsituation verstärken wiederum die Wirkung, in eine kindliche Situation zurückversetzt zu werden.

Unmittelbar legt sich mir als Psychotherapeutin eine Verbindung zu seelischen Traumata nahe im Sinne von Grenzüberschreitungen oder missbräuchlichen Situationen, die Kinder nicht einordnen können und die diese tief verletzen. Solche Erlebnisse lassen Spuren zurück, die lange noch wirksam bleiben, ohne bewusst verstanden zu werden. Brennende Häuser und Einrichtungsgegenstände, unmöglich erscheinende Treppenhäuser und tiefschwarze Zeichnungen vertiefen den Eindruck, es werden verstörende Erlebnisse künstlerisch verarbeitet. Allerdings werden in anderen Räumen oft wiederum spielerische Bildbrechungen angeboten. So wird ein Haus um 90 Grad gedreht, man kann es betreten, sich in mehreren Spiegeln anschauen und auch einen kleinen Geist finden, der im Haus versteckt ist. Simon Schubert führt in seinem Schattenreich keine Abgründe vor, sondern bietet eine Reise durch sehr unterschiedliche Räume der Seele an.

Empfehlen möchte ich den Besuch der Ausstellung nicht, weil ich denke der Künstler hat seelische Traumata verarbeitet, sondern weil man an einigen Stellen bildlich erleben kann, wie sich Raum und Zeit aufheben und wie einzelne Ereignisse in diesem nicht-linearen und nicht-logischen Zuständen mit Bedeutung aufgeladen werden können. Dies ist eine Analogie zur psychologischen Betrachtung von Lebensgeschichten und Symptomentstehungen und machte mir den Besuch persönlich und beruflich zu einer Bereicherung.

Simon Schuberts Austellung Schattenreich ist noch bis zum 19. April 2020 im Museum Morsbroich zu sehen. Kubricks „2001: A Space Odyssey“ (1968) und Tim Burtons „Alice in Wonderland“ (2010) findet man bei Amazon Prime – oder im eigenen DVD-Schrank. Eine deutsche Ausgabe von Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“ gibt es zum Beispiel als Insel Taschenbuch gebraucht hier.

Schattenreich (Schlafraum) 2019, © Simon Schubert
Schattenreich (Rahmenkabinett) 2019, © Simon Schubert
Die verbotene Reprobation 2007,
© Simon Schubert
ohne Titel (Licht im Treppenhaus), 2016,
© Simon Schubert
Podcasts

„Seelsorge, Coaching, Psychotherapie“ – ein Dreiergespräch aus der Reihe Psychcast

Veröffentlicht am
Edith Buchhalter 2009

Ein Gespräch zwischen einer Seelsorgerin, einem Coach und einem Psychotherapeuten anzuhören, fand ich unmittelbar spannend. Nicht nur das, was gesagt wird, interessierte mich, sondern auch wie miteinander umgegangen wird, welche Atmosphäre entsteht und ob unter diesen Bedingungen etwas gesagt werden kann, was sonst nicht gesagt würde.

Inhaltlich ging es um Rahmenbedingungen, grundsätzliche Haltungen im Beruf und Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Vorgehensweise. Am meisten Freude machte mir die Frage, was denn die einzelnen in ihrer Arbeit gerne und gut machen, und zwar beide Aspekte zusammen: Was machst du, was sehr wirksam ist und dich mit dem Gefühl nach Hause gehen läßt, das war gut und hat Spaß gemacht? Dazu wird von den Beteiligten genannt: „Raum geben und halten“, „Annehmen“, dem „Gegenüber das Gefühl vermitteln, es sei in Ordnung“, als zweites „provokatives Irritieren eigener Bremsen“ oder „Thema wechseln beim Zirkulieren“, als drittes nennen alle das Ansprechen, Bestärken und Anwenden eigener Stärken und Ressourcen des Gegenübers. Gegen Ende war es in der wertschätzenden Dynamik des Dreiergesprächs auch möglich, Lachen und Humor zu nennen, oder Spaziergänge durch den Park, ganz ,ganz kleine Schritte besprechen oder eine Kerze anzünden.

Lange noch im Gedächtnis geblieben ist mir ein Bild, das die Seelsorgerin als wichtig für ihre Tätigkeit benannte, das Bild der Auferstehung Jesu. Besonders wirksam für die empathische Grundhaltung sei dabei der Satz: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, für weiteres Arbeiten das Wunder der Auferstehung selbst: Bei Sackgassen gibt es immer etwas, das passiert, das ich mir nicht vorstellen kann, eine unerwartete Tür, und da kann man gemeinsam hinschauen. Dass biblische Bilder hochwirksam sind, ist keine überraschende Ansicht, aber dies so zeitgemäß übersetzt zu hören war neu für mich. Und es entstand dabei die Frage: Welches Leit-Bild hat man als psychotherapeutisch Tätige/r von der eigenen Arbeit und wie unterscheidet sich dieses vom biblischen Bild? Oftmals begegnet mir – bei Kolleg/innen, aber auch in mir – das Bild von Machbarkeit, Magie, Zaubern, Verwandeln können. Ein sehr mächtiges Bild, aber es kann auch stark trennen, einer besitzt das Zauberwissen und ein anderer nicht. Darauf nimmt auch Jan Dreher Bezug, der in diesem Podcast äußert: „Ein bißchen Demut würde wahrscheinlich manchem Psychotherapeuten ganz gut tun“. Pointiert weist er damit darauf hin , dass man als Psychotherapeut erfahren ist mit seelischen Krankheiten, aber wie der einzelne Mensch jeweils mit seinen Problemen umgeht, das weiß er nicht besser als dieser Mensch selbst.

Insgesamt gibt der Podcast einen neuen Blick auf die eigene Arbeit, da man durch andere Augen schauen kann, aus angrenzenden Fachgebieten Anregungen erhält und vielleicht gelassener mit Überschneidungen umgehen kann.

Grit de Boer ist Pfarrerin im Krankenhaus und arbeitet in der Diakonie, Schwerpunkt Trauerbegleitung. Philipp Besch ist Dipl.-Pädagoge, mit Erfahrungen in der stationären und ambulanten Jugendhilfe ist er nun tätig in der Erwachsenenbildung und als Coach, einzel und in Unternehmen. Jan Dreher ist Psychiater, Psychotherapeut und Chefarzt einer Klinik in Krefeld.

Die Folge 92 des Psychcast findet man hier.

Bücher

„Der Panama-Hut oder Was einen guten Therapeuten ausmacht“ – ein Buch von Irvin D. Yalom

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Fotografie: unbekannt

Ein guter Therapeut sollte handeln, Fehler eingestehen, eine Diagnose vermeiden, die eigenen Probleme offen benennen und Hausbesuche machen? Da regt sich Widerspruch, und das ist für mich eins der Hauptargumente, dieses Buch zu lesen – außer den vielen Beispielen und der unzweifelhaft großen literarischen Kompetenz des Autors. Eine Zusammenstellung von 85 Ratschlägen (plus Anhang) ist schon an sich eine Provokation, denn sowohl Konzepte über das Entstehen von Störungsbildern als auch Behandlungskonzepte findet man selten in dieser Form. Aber ein lebenserfahrener Psychiater und Psychotherapeut kann und darf sich seinem Thema ungebunden nähern. Dies trägt zur guten Lesbarkeit bei, enthebt einen aber nicht vom Nachdenken und Vergleichen mit der eigenen Arbeitsweise.

Manches ist nicht neu, zum Beispiel dass sich durch therapeutisches Handeln eine andere als die beabsichtigte Wirkung einstellt, dies aber sehr fruchtbar sein kann. Einer Trost benötigenden Patientin bot Yalom an, ihre Sitzung auf einen Zeitpunkt zu verschieben, an dem sie nicht von ihrer Arbeit freinehmen müsse, damit sie es leichter habe. Die Patientin dagegen fühlte sich dadurch abgelehnt und war überzeugt davon, dass die Stunden mit ihr der Tiefpunkt seiner Woche seien. Die Gespräche wurden dadurch aber „auf das fruchtbare Terrain ihrer eigenen Selbstverachtung und der Projektion ihres Selbsthasses“ auf den Therapeuten geführt.

Manches wird kurz und knackig geschrieben, manches nimmt viel Raum ein, wie der Umgang mit Träumen, die der Autor vorschlägt zu „plündern“, also das zu entnehmen, was zeitlich und thematisch am besten zu gebrauchen ist. Grundsätzlich aber ist die reflektierende Ebene immer enthalten, also Ratschläge werden begründet und diskutiert. Und dies geschieht auch bei der Lektüre: man blättert herum, liest sich fest, findet eigene `Regeln`wieder, man lehnt etwas ab, denkt nach und positioniert sich neu. Oder man genießt die Bearbeitung eines nur allzu bekannten Themas: Wie gehe ich mit verliebten Patient/innen um? Man möchte nicht zum „Henker der Liebe werden“, man weiß aber um die Verfallzeit des Verliebtseingefühls. Yaloms ausführlicher Ratschlag dazu zentriert sich um das „behutsame Entwickeln einer langfristigen Perspektive“, ohne in Kritik an dem „goldenen Gefühl“ des Verliebtseins zu verfallen.

Schwierig ist es, dass Yalom als jemand auftritt, der sehr überzeugt von sich und seinen Fähigkeiten ist und dies in bewundernswerter sprachlicher Kompetenz darzustellen weiß. Dennoch fühlte ich mich – meist – nicht abgehängt oder überheblich behandelt. Dies könnte daran liegen, dass der Autor seine narzisstischen Tendenzen an einigen Stellen thematisiert, oder auch daran, dass für ihn glaubhaft die Menschen im Vordergrund stehen, die zu ihm kommen und an sich arbeiten möchten, sowie die Therapeuten, die sein Buch lesen und an sich arbeiten möchten.

Irvin D. Yalom (* 1931) war Professor für Psychiatrie an der Stanford University und hat zahlreiche Romane und Fachbücher veröffentlicht. Basis seiner intersubjektiven und psychodynamischen Herangehensweise ist die existenzielle Psychotherapie. Das empfohlene Buch ist 2002 unter dem Titel „The Gift of Therapy“ in New York erschienen und auf Deutsch im btb Verlag erschienen

Szenen aus Sitzungen mit Yalom werden von ihm besprochen und sind bei Youtube zum Beispiel hier zu finden.

Filme und Serien

„Blue Jasmine“

Veröffentlicht am
Edith Buchhalter 2011

Kennt man nicht Phasen im Leben, in denen man laut mit sich selbst spricht und die anderen um sich herum vergisst? Psychologisch gesehen könnte dies ein Weg sein, sich in einer Art Selbstfürsorge wieder aufzurichten und so aus einem Tief heraus zu kommen. Dies jedenfalls wünscht man in dem Film „Blue Jasmine“ (Woody Allen, 2013) der Hauptfigur und diese Hoffnung trägt das Filmerleben sehr lange Zeit. Neben natürlich der überragenden Schauspielerin Cate Blanchett, die der an ihrer verlorenen Fassade festhaltenden älteren Frau eine intensive und leere Traurigkeit gibt.

Jasmine hat ihren Reichtum, ihren seelenlosen Ehemann und ihre Wohnung an der Upper East Side von New York verschwinden sehen, sie ist gezwungen zur Schwester nach Florida zu ziehen, sich einen Job zu suchen und ihren Alltag selbst zu organisieren. Gezeigt wird dies als struktureller Zusammenbruch, als Verlust einer Außenhülle, die das einzig stabile Gerüst im Leben der Gattin eines reichen Betrügers war. Quälend ist die fortschreitende Verleugnung aller Angebote des realen Lebens, die Verdrängung von Erfahrungen, die Jasmine macht, der fortschreitende Rückzug in das blau-leere Innenleben. Der Film macht deutlich, wie schwer es ist, eine Anlehnung an Fassaden wie Ehemann, Reichtum u.a. aufzugeben. Sinnlichkeit, kompliziertere Bindungen, mittelmäßige Lebensformen, Versagungen, Alltagsanforderungen – in all dies kann Jasmine nur momentweise einsteigen. Der Sprung aus ihrer haltgebenden Hülle ist zu angstbesetzt, zu wenig erprobt, lieber wird der rote Faden der traurigen Gleichgültigkeit wieder aufgenommen. Am Ende ist sie gefangen in den Versuchen, die gefundene Lebensform zu wiederholen, also wieder einen reichen Ehemann zu finden. Man sieht, wie diese Methode leerläuft, Jasmine kann ihr Scheitern nicht nutzen und das Verleugnen setzt wieder ein.

Realitätsverlust, fassadere Persönlichkeit, abhängige Strukturanteile sind die diagnostischen Stichworte, aber Cate Blanchett macht aus Jasmine eine komplexe und überzeugende Film-Figur, die die ihre Probleme reichhaltiger deutlich macht als trockene Einordnungen. Es gibt Kritiken, die den Realitätsverlust der Protagonistin gespiegelt sehen in der künstlichen und stereotypen Darstellungsweise des Regisseurs. Dies mag sein, kann aber auch als eine Kongruenz von Inhalt und Form angesehen werden.

Blue Jasmine kann man auf Amazon Prime leihen oder als DVD kaufen z.B. hier

Eine Kritik aus der Süddeutschen Zeitung findet man hier.

Filme und Serien

„Silver Linings“

Veröffentlicht am
Edith Buchhalter 2019

Man kann zwar davon ausgehen, dass PsychotherapeutInnen Aspekte einiger Störungsbilder aus ihrem eigenen Alltag kennen. Wer aber weiß, wie sich der Alltag eines bipolar gestörten Mannes oder einer emotional instabilen Frau tatsächlich anfühlt? Filme können, gefasst in der Hülle eines Genres, viele Aspekte von Störungsbildern beim Anschauen erfahrbar machen. Sie können Störungen lebendig werden lassen, ohne dass man Intimitätsgrenzen eines Patienten oder einer Patientin überschreiten muss.

Ein Klassiker dafür ist der Film „Silver Linings“ von David O. Russell (2013), die Geschichte eines Mannes und einer Frau nach heftigen Lebenskrisen, die sie in eine Klinik und danach wieder in die Fürsorge ihrer Eltern gebracht haben. Genaue Beobachtungen der in Schwierigkeiten führenden Beziehungsmuster der beiden Hauptpersonen, ihrer Selbst- und Fremdbehandlungsversuche, ihrer Rückfälle und ihrer Kämpfe mit dem sozialen Umfeld wechseln sich ab mit den vertrauten und entlastenden Schemata einer romantischen Komödie. Insbesondere die notwendige Rückkehr ins Elternhaus lädt zu witzigen Wendungen ein, zu denen Robert de Niro als Vater wesentlich beiträgt, die Reinszenierungen der elterlichen Beziehungen lassen aber auch etwas von der Pathogenese spüren, ohne ins Erklären abzugleiten.

Das gemeinsame Einüben eines Paartanzes trägt wesentlich zum Heilungsprozess bei. Auch das eine bekannte Formel, aber der Prozess wird ausführlich und liebevoll dargestellt, gezeigt wird dabei sowohl das Eingehen einer Arbeitsbeziehung, das Errichten eines haltgebenden Rahmens, das Einhalten von Regeln und das Durchbeißen bei Rückschlägen, alles auch Charakteristika des Behandlungsprozesses von seelischen Störungen.

Hauptdarsteller sind Jennifer Lawrence und Bradley Cooper und man findet den Film bei Amazon Prime oder als DVD, gebraucht zum Beispiel hier.

Bücher

„Der Umgang mit Ambiguität“ – ein Essay des Islamisten Thomas Bauer

Veröffentlicht am
Edith Buchhalter 2010

Der Blick aus dem Fenster der eigenen Psychotherapiepraxis führt mich oft in die Zeitgeschichte, denn die Menschen, die zu mir kommen, leben unter politischen, kulturellen oder religiösen Bedingungen. Thomas Bauer ist Islamist, Exzellenzwissenschaftler und Preisträger des ersten deutschen Sachbuchpreises in den Geisteswissenschaften. Sein Essay zur Ambiguität im Sinne von Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit in der heutigen Zeit ist spannnend, da sein Wissen um die Geschichte des Islam einfließt in allgemeine Betrachtungen zur aktuellen deutschen „Mentalität“. Seine Grundthese: derzeit herrsche eine Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit vor, die zu vielen der aktuellen gesellschaftlichen Probleme beitrage.

Zum Thema: Else Frenkel-Brunswik (1908 – 1958), eine deutsch-amerikanische Psychologin forschte als erste zum Persönlichkeitsmerkmal „Ambiguitätstoleranz“, das insbesondere bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Entstehung des Faschismus in Deutschland herausgearbeitet wurde. Wie weit kann die Mehrdeutigkeit eines Phänomens ausgehalten werden? Wie wird damit umgegangen? Auf welchem Hintergrund entsteht ein Druck zur Eindeutigkeit von Weltauslegung? Bauer überträgt in seinem Essay diese Fragen auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und berührt dabei die Geschichte des Islam, der katholischen Kirche, den heutigen Umgang mit Sexualität, Popkultur, das Leben eines deutschen Rassentheoretikers und vieles mehr.

Man braucht etwas Zeit, um sich in die Denk- und Argumentationslogik des Buches einzulesen, denn Bauer ist kein empirischer Sozialforscher oder Psychologe, obwohl er auf Erkenntnisse dieser Bereiche zurückgreift. Eher geht es um „Mentalitätsgeschichte“, und das wird höchst spannend, wenn anhand der vielen Begriffsklärungen große Linien gezogen werden, aber anschauliche Beispiele nicht zu kurz kommen. Neu könnte es für Leser z.B. sein, dass islamisch geprägte Kulturen lange Zeit sehr ambiguitätstolerant waren. In den letzten 1000 Jahren vor dem 20. Jahrhundert gab es dort quasi keine Steinigungen von Ehebrechern, homosexuelle Aktivitäten wurden ausgeführt, beschrieben, literarisch verarbeitet, aber Menschen wurden nicht eindeutig in homosexuell oder heterosexuell klassifiziert. Auch wurden dauerhaft neue Auslegungen des Koran produziert, eine einzig Wahrheit aber gab es dabei nicht, und als bei einer sehr großen Anzahl der Auslegungen eine Schwerpunktsetzung unumgänglich schien, wurde eine überschaubare Anzahl als bedeutsam gewertet, die anderen aber weiter aufbewahrt, gelehrt und ergänzt.

Vergleichbares findet sich auch in der katholischen Kirche, die im 17. und 18. Jahrhundert ihren Missionaren in Persien eine höchst schwierige Frage beantworten musste. Die armenischen Christen, die den Papst als Oberhaupt angenommen hatten und die man in der Missionierung dringend benötigte, praktizierten dennoch die Kinderehe. Rom schrieb: Nihil esse respondendum – Es soll nicht geantwortet werden. Dieser Beschluss, der beschließt, nichts zu beschließen, ist ein Beispiel für die Ambiguitätstoleranz der katholischen Kirche, die viel zu ihrem Fortbestand beigetragen habe.

In beiden Religionen setzte mit dem Beginn der Moderne und sich steigernd mit der Globalisierung ein Verlust der Ambiguitätstoleranz ein, der zu der nicht neuen, aber gut belegten These führt, dass die Tendenz zur Vereindeutigung es möglich macht, sich vom anderen, Fremden abzuheben.

Zum Nachdenken bringt der Aspekt, dass man bei praktizierter Religiosität (im Gegensatz zu agnostischer Gleichgültigkeit oder Fundamentalismus) Ambiguität trainieren kann, denn Transzendenz anzuerkennen führt zwangsläufig in mehrdeutiges Erleben. Ein Göttliches ist nicht kategorisierbar, anfassbar oder überindividuell zu bestimmen, ebenso wie die Kommunikation mit dem Göttlichen in Form von heiligen Texten nie eindeutig sein kann.

Wenig verwundert hat mich, dass auch der Bereich der Kunst für Bauer zum Thema wird, allerdings mit z.T. erstaunlichen Resultaten. Es gebe gerade in der Moderne eine Tendenz zur Reinheit, Wahrheit und Geschichtslosigkeit, die Begleiterscheinungen der Ambiguitätsintoleranz, Beispiele dafür seien die Zwölftonmusik und die serielle Musik, der Abstrakte Expressionismus oder die „Ästhetik der Glätte“ eines Jeff Koons. Ist aber abstrakte Kunst nicht gerade offen und für verschiedene Auslegungen geeignet? Bauer argumentiert, bedeutungs-, geschichtlos- und konventionslos lade Kunst nicht zur Mehrdeutigkeit ein, nicht zum Changieren im Einlassen auf verschiedene Ebenen und einen Mittelweg finden, mit ungedeuteten Resten.

Man wird bei der Lektüre zum inneren Diskutieren aufgefordert, man reflektiert über den Begriff der Authentizität, über den Markt, in dem der Wert einer Sache eindeutig festlegt werden muss, damit Handel getrieben werden kann, über den politischen Begriff der Identität und über den Maschinenmenschen. Und man kann sich innerlich positionieren, denn man wird nicht in eine Argumentation oder ein Denkgebäude hinein gezwungen, sondern auf eine eigentümlich altmodische Art und Weise zum Nachdenken angeregt. Und: ist der psychotherapeutische Prozess nicht auch ein ständiges Arbeiten an der Auflösung der unumstößlichen, aber selbstbehindernden Vereindeutigungen unserer Patienten, mit dem Ziel, den Wiederholungszwängen mehrdeutige Auslegungen von Wirklichkeit gegenüberzustellen, ja für diese zu werben?

Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, reclam 2018, 97 Seiten

Hier ein Interview mit dem Autor im Tagesspiegel

Filme und Serien

„Unbelievable“ – eine Netflix Serie über Vergewaltigungen

Veröffentlicht am
Edith Buchhalter 2004

„Unbelievable“ ist die erste Serie seit längerer Zeit, die mich nicht losließ, bis ich sie zu Ende geschaut hatte. Dieser Effekt hängt unter anderem damit zusammen, dass mein professionelles Interesse als Psychotherapeutin geweckt wurde. Bei Filmen und Serien über sexuelle Gewalttaten entsteht bei mir immer die Frage, ob das Geschehen angemessen und differenziert dargestellt wird, was leider oft nicht der Fall ist. Hier aber werden überzeugend, ausführlich, manchmal schmerzhaft genau die Folgen von Vergewaltigungen als ein ganzes System von Wirkungen spürbar gemacht. Dazu gehören die Unentrinnbarkeit der Situation, von einem Mann in der eigenen Wohnung zu sexuellen (und anderen) Handlungen gezwungen zu werden, die Flashbacks derer, die dies erlebt haben, die Hilflosigkeit der Angehörigen und Ärzte, das Gefangensein der Ermittler in ihrem Arbeitsumfeld und in ihren Prägungen und die toxische Auswirkung auf die gesamte Lebensgestaltung der betroffenen Frauen. Alles wird ruhig und zugleich aufwühlend erzählt und eröffnet so die Möglichkeit, in das Erleben aller Beteiligten einzutauchen und die Komplexität der Wirklichkeit rund um eine solche Tat erfahrbar zu machen.

Vielleicht ist ein Baustein für die beschriebene Wirkung, dass die Serie auf einer preisgekrönten Reportage beruht und dieser reale Hintergrund fast genau übernommen wird. Wichtiger aber scheint mir zu sein, dass die Serie weitestgehend auf die Tätersicht verzichtet, sie taucht weder in Kameraführung noch in Motivationserzählungen auf. Damit kommt man einem psychotherapeutischen Standpunkt recht nahe, denn eine Behandlung eines solchen Traumas verlangt, der Patientin (es sind meist Frauen) konsequent zur Seite zu stehen und dem Täter nur so weit in den Behandlungsprozess Einlass zu gewähren, wie es stabil (für beide Seiten) aushaltbar ist. Die Serie geht sogar so weit, dass die Körper der Frauen nur ausschnittweise in Fotos oder in den Flashbacks zu sehen sind, der Täter aber, als er sich in der Haft untersuchen lassen muss, quälend lange vollständig nackt zu sehen ist.

Lange im Kopf bleiben auch die beiden Ermittlerinnen, eine Anfängerin, gläubige Christin und Mutter mit einer eher sanfter Herangehensweise und eine härtere und erfahrene Polizistin mit Beziehungsproblemen. Sie zeigen unterschiedliche Weisen des Umgangs mit den vergewaltigten Frauen, den Verdächtigen, dem sozialen Umfeld und dem Täter. Damit wird ein Spektrum eröffnet an Wut, Einfühlung, Sanftheit, Betroffenheit, Herumwühlen, Hilflosigkeit und Gewalt und nichts davon wird als die einzig wahre Vorgehensweise hervorgehoben – eine Erfahrung, die das Blickfeld erweitert und das psychotherapeutische Handeln bereichern kann.

Die Serie kann man derzeit bei Netflix (Trailer hier) streamen (monatliche Kündigungsfrist) und die Reportage dazu ist hier zu finden.

Forschung

Youtube Kanal „maiLab“ zum Placeboeffekt

Veröffentlicht am
Edith Buchhalter 2014

Wieso kann man als Psychologin ein Youtube-Video zum Thema „Placebo-Effekt“ mit Gewinn anschauen? Weil es ein Thema ist, bei dem es um die Wirkung zwischenmenschlicher Interaktion geht, und zwar bei der Behandlung von Krankheiten durch Medikamente. Sicher hat man sich als Psychotherapeut/in schon mal gefragt, was geschieht, wenn Zuckerpillen helfen, aber kann man es genau aufdröseln? Mai Thi Nguyen-Kim ist eine deutsche Wissenschaftlerin, promoviert in Chemie, die in ihrem Youtube-Kanal (maiLab bei funk) wissenschaftliche Themen so darstellt, dass sie für ein nicht wissenschaftliches und junges Publikum verständlich sind, und dies auf unterhaltsame Art und Weise. In diesem Video erfährt man, wie nachgewiesen wurde, dass der Placeboeffekt keine Einbildung ist, sondern durchaus physiologisch nachweisbar, man erfährt, dass es nicht nur um Erwartung geht, sondern auch um Phänomene wie Regression zur Mitte und Response Bias, und es wird ein Forscher von der Uniklinik Essen, Manfred Schedlowski, befragt, der zu dem Schluss kommt, „dass über die Erwartung, die ich modulieren kann, in der Kommunikation mit dem Patienten, dass ich da die Wirkung von Medikamenten, von medizinischen Behandlungen allgemein, verbessern kann.“

Erinnert hat mich das Video an aktuelle Fragen zur Repräsentanz von seelischen Wirkungen im Gehirn. Es ist ein psychologischer Allgemeinplatz, dass Körper und Seele eine Einheit bilden, aber hier wird es in der Sprache der Naturwissenschaft und der klinisch-medizinischen Studien formuliert und kann eventuell Argumentationshilfen liefern, wenn man mit anderen über dieses Thema ins Gespräch kommt.

Das Video gibt es hier zu sehen.

Im gleichen Kanal findet man übrigens einen Faktencheck zum Video „Die Zerstörung der CDU“ des Youtubers Rezo, der beweist, wie ernsthaft dabei recherchiert wurde.