„Die Palliativversorgung in Deutschland“ – ein Vortrag von Lukas Radbruch
Veröffentlicht amNiemand hat den Tod erlebt und könnte davon berichten, aber jeder Mensch weiß, dass er sterben wird. Diese Leerstellenparadoxie der menschlichen Existenz wird gefüllt mit Ritualen, besonderen Umgangsweisen und Szenerien, mit spezieller Musik und mit der Gestaltung bestimmter Orte. Aber der Sterbeprozess als wissenschaftliches Thema ist in der heutigen Gesellschaft, in der Selbstoptimierung und Technisierung vorherrschen, eher ungewöhnlich. Immer noch sprechen Menschen nicht gerne über das Sterben, obwohl es laut einer Studie des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes bei einem großen Teil der Bevölkerung den Wunsch nach mehr Informationen zu und einer intensiveren Beschäftigung mit dem Thema gibt. Ein weiterer Blogbeitrag zum Sterben (nach diesem) erschien mir deshalb folgerichtig, auch, um das Thema in mein eigenes Leben, Arbeiten und Denken zu integrieren.
Palliative Versorgung meint die ganzheitliche, aktive Betreuung von Menschen mit unbehandelbaren Krankheiten, um diesen ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Lukas Radbruch beginnt seinen Vortrag mit vielen Informationen zum Begriff „Palliativmedizin“ und beschreibt die typische Arbeitsweise einschließlich vieler auftretender Probleme. Er ist Kliniker, und man merkt seinem Vortrag an, dass er seinen Arbeitsalltag auf einer Palliativstation verbringt und daher sehr lebendig, manchmal humorvoll, manchmal betroffen davon berichten kann.
Fasziniert hat mich beim Hören des Vortrags, wie Lukas Radbruch von medizinischen Informationen ausgehend immer mehr ganzheitliche und die gängige medizinische Auffassung verlassende Forschungsansätze präsentiert beziehungsweise verstärkt fordert. Ganz selbstverständlich wird z.B. beim Thema „Essen in der Sterbephase“ das kulturelle Bild von Versorgung als ein wesentlicher Faktor angesehen. So können viele Menschen in dieser Phase körperlich keine Nahrung mehr verwerten, aber die Freiheit, nicht mehr zu essen, muss erstritten werden gegen die gängige Vorstellung, man müsse doch essen, um zu Kräften zu kommen. Andererseits wird ein schwer verträgliches, fetthaltiges Essen, bei dem sofortiges Übergeben erwartet wird, genussvoll vertragen, da es von der Mutter zubereitet wurde. Hier wird die bedeutsame Beziehung zur Mutter selbstverständlich als Wirkfaktor angesehen. Entsprechend dieser Haltung werden Studien gefordert, in denen interdisziplinäre Strukturen zum Zuge kommen, mit sozial-, geistes- human- und naturwissenschaftlichen Ansätzen sowie Erforschung der Angehörigenbetreuung.
Berichtet wird auch von einer europaweiten empirischen Studie zum assistierten Suizid, in der übereinstimmend die Haltung vertreten wird, diesen nicht in die palliative Versorgung zu integrieren, sondern als ein konkurrierendes Angebot zu verstehen (in den Ländern, in denen das rechtlich möglich ist). Wichtig an dieser Stelle war für mich, dass Radbruch empfiehlt, wenn ein Patient einen Sterbewunsch äußert, zunächst nach der Motivation zu fragen, denn meist erwarten die Patienten in dieser Situation nicht mehr, als dass man ihnen zuhört und sie ernst nimmt. Das klingt einfach, ist aber weder im Berufsverständnis eines Arztes noch im Stationsalltag verankert. Wenn der betreuende Arzt überhaupt Zeit hat, will er oft den Sterbewunsch nicht hören, da er meint sonst den Psychiater rufen zu müssen. Radbruch aber hebt hervor, dass es in den Situationen meist eher um Akzeptanz für die aktuellen Empfindungen des Patienten geht, um Informationen zu Alternativen wie Symptomkontrolle und Sedationsmöglichkeiten und zu der Option, Flüssigkeit und Nahrung zu verweigern. Oder einfach darum aktuell die Sicherheit zu spüren, für einen späteren, schlimmeren Zustand noch etwas in der Hinterhand zu haben.
Vieles, was angesprochen wird, kann im Zusammenhang gesehen werden mit der in unserer Gesellschaft vorherrschenden Verdrängung von Tod und Sterben. Radbruch pointiert dies in der Frage, ob das Auto des Bestatters in einer Klinik die Toten am Hintereingang abholen muss, oder ob es am Haupteingang vorfahren darf. „Wer bei uns zum Haupteingang hereinkommt, soll dort auch wieder hinauskommen“, ist seine Meinung dazu.
Lukas Radbruch ist Professor für Palliativmedizin in Bonn und der Vortrag wurde 2018 gehalten während der Jahrestagung der Leopoldina, der Nationalen Akademie für Wissenschaften, zu finden hier (ab Minute 26) bei DLF Nova Hörsaal. Hier findet man einen weiteren Vortrag von Lukas Radbruch mit einer Fülle an medizinischen und klinischen Informationen rund um das Thema Sterben, der Titel lautet: „Wie ein Arzt das Sterben erlebt“.
An dieser Stelle möchte ich aus psychodynamischer Sicht den Band „Forum der Psychoanalyse“ 35/2019 empfehlen: „Zur Psychoanalyse des Alterns und Sterbens“, mit Beiträgen von Michael Ermann, Jakob Müller/Cecilie Loetz und anderen, hier kann man das Editorial von Timo Storck lesen.