Zweimal habe ich die Ausstellung besucht, und jedesmal ließ mich die Frage nicht los, wie es den Schatten in Simon Schuberts Räumen ergeht, denn das Leben wird ihnen nicht leicht gemacht. Oft wird das Licht so manipuliert, gesteigert oder ausgeblendet, dass die Schatten mit viel Aufwand gesucht werden müssen. Jedenfalls denkt man das – bis man bemerkt, dass die Schatten im Grunde überall beteiligt sind, schmal, zart, graphitschwarz, angedeutet oder auch übermächtig.
Das Spiel von Licht und Schatten ist eine thematische Linie, entlang derer man die Ausstellung im Museum Morsbroich begehen kann. Ständig präsent sind die Faltungen in weißem Papier, die den zweidimensionalen Bildträger zu einem perspektivischen Raumgestalter werden lassen. Alle Wände der Graphiketage des Musuems Morsbroich sind damit verkleidet, sie reflektieren das künstliche Licht und bieten doch Ausfluchten daraus, da die Faltungen Räume vorspielen. Es sind schön anzusehende Perspektive-Tricks, denen man gerne folgt, da sich bald in den Räumen selbst eine schwer greifbare Beklemmung einstellt. Man möchte ihr entgehen, indem man nach einer Ordnung sucht, also z.B. in welcher Richtung man die Räume am sinnvollsten durchwandert. Oder indem man Spiegel-Spiele mit sich selbst oder anderen spielt, und mit gelöst-heiterer Stimmung dem Unheimlichen entgehen möchte. Aber das Licht mit seinem Gegenspieler „Nicht-Licht“ bleibt bestimmend für den Besuch der Ausstellung und man kann ihm nicht entkommen, so sehr man es auch versucht.
Eine andere Lesart des Schattenreiches wird durch „Dr. R.“ vorgegeben, eine mit Arztkittel und zuhörender Sitzhaltung versehene Figur mit Plüschhasenkopf. Durch ihn wird man auf die Fährte gesetzt, man betrete nun eine verkehrte Welt, wie bei Alices Spiegelwelt durch das Kaninchenloch (Lewis Carroll) oder wie bei Sigmund Freud die Welt des Unbewussten durch die Traumdeutung. Rahmen umschließen mehrere unregelmäßig gehängte Papierarbeiten oder sie sind winklig ineinander verdreht ohne ein Werk zu umfassen, ein Haus wird gewendet und auf der Giebelseite wieder aufgestellt, Treppenhäuser werden perspektivisch verzerrt gezeichnet. In einem dunklen Spiegelkabinett sieht man nicht sich selbst, wie man es aus der Szenerie erwarten könnte, sondern im Spiegel tauchen weitere Ausstellungsbesucher auf. Die ebenfalls vor dem Spiegel stehende gesichtslose Frau wirft die Frage auf, ob man sich selbst überhaupt im Spiegel erkennen kann, oder sind wir uns nicht auch immer etwas fremd?
Ausgehend von dem als Schlafzimmer erkennbaren Raum der Ausstellung findet man ein weiteres Thema: Was nimmt man wahr in einem extrem hellen Raum? Auf eine glatte Matratze sind Falten aufgebracht, die andeuten, dass das Bett benutzt worden ist und aus dem Nachbarzimmer schaut ein Mädchen auf das Bett, genauer gesagt, sie steht kurz vor der Türschwelle. Man nimmt ihre Blickrichtung zum Bett wahr, aber sie hat kein Gesicht, sondern nur zwei Rückseiten. Sie kann sich nicht abwenden von dem, was sie dort sieht oder auch erinnert. Besucher sind oft mit der genauen Betrachtung der Figur beschäftigt, sie fragen sich, ob sie einen Daumen hat oder nicht, ob das Haar echt ist und ob die Kleidung passt. All dies sind kognitive Verstehensversuche, die ablenken können vom dem Eindruck, es könnte dort etwas Beunruhigendes geschehen sein. Das Schlafzimmer verweist in seiner surrealen Lichtsituation auch auf künstlerische Experimente mit Zeit- und Raumlosigkeit, wie sie zum Beispiel in den letzten Sequenzen von Kubricks „2001: A Space Odyssey“ (1968) meisterhaft vorgeführt wurden. Auch in Schuberts Raum fühlt man sich schwebend und vollständig umfasst, oder auch geblendet und ohne Wärme, verschiedene Alterstufen begegnen oder überschneiden sich. Die Aufhebung von Zeit durch das popkulturelle Zitat und die Lichtsituation verstärken wiederum die Wirkung, in eine kindliche Situation zurückversetzt zu werden.
Unmittelbar legt sich mir als Psychotherapeutin eine Verbindung zu seelischen Traumata nahe im Sinne von Grenzüberschreitungen oder missbräuchlichen Situationen, die Kinder nicht einordnen können und die diese tief verletzen. Solche Erlebnisse lassen Spuren zurück, die lange noch wirksam bleiben, ohne bewusst verstanden zu werden. Brennende Häuser und Einrichtungsgegenstände, unmöglich erscheinende Treppenhäuser und tiefschwarze Zeichnungen vertiefen den Eindruck, es werden verstörende Erlebnisse künstlerisch verarbeitet. Allerdings werden in anderen Räumen oft wiederum spielerische Bildbrechungen angeboten. So wird ein Haus um 90 Grad gedreht, man kann es betreten, sich in mehreren Spiegeln anschauen und auch einen kleinen Geist finden, der im Haus versteckt ist. Simon Schubert führt in seinem Schattenreich keine Abgründe vor, sondern bietet eine Reise durch sehr unterschiedliche Räume der Seele an.
Empfehlen möchte ich den Besuch der Ausstellung nicht, weil ich denke der Künstler hat seelische Traumata verarbeitet, sondern weil man an einigen Stellen bildlich erleben kann, wie sich Raum und Zeit aufheben und wie einzelne Ereignisse in diesem nicht-linearen und nicht-logischen Zuständen mit Bedeutung aufgeladen werden können. Dies ist eine Analogie zur psychologischen Betrachtung von Lebensgeschichten und Symptomentstehungen und machte mir den Besuch persönlich und beruflich zu einer Bereicherung.
Simon Schuberts Austellung Schattenreich ist noch bis zum 19. April 2020 im Museum Morsbroich zu sehen. Kubricks „2001: A Space Odyssey“ (1968) und Tim Burtons „Alice in Wonderland“ (2010) findet man bei Amazon Prime – oder im eigenen DVD-Schrank. Eine deutsche Ausgabe von Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“ gibt es zum Beispiel als Insel Taschenbuch gebraucht hier.