Filme und Serien

„The Favourite“ – ein Film von Giorgos Lanthimos

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Bild: 20th Century Fox

Machtverhältnisse in Liebesbeziehungen ist eins der ältesten Themen überhaupt. Es wäre ethisch fragwürdig in einem wissenschaftlichen Experiment zu untersuchen, wie sich die Verflechtungen von Liebe und Macht auswirken. Lanthimos aber führt in seinem Film eine Art Untersuchung zu diesem Thema durch, indem er drei Frauen (und um diese herum mehrere, eher unwichtige Männer) unter den Bedingungen eines mächtigen Hofstaats Anfang des 18. Jahrhunderts beobachtet.  Geht Liebe unter einem absolutistischen Himmel? Werden Menschen in ihren Liebesbeziehungen so, wie der politische und soziale Rahmen es vorgibt?

The Favourite, übersetzbar mit ‚die Begünstigte‘, ist ein Film über drei Frauen, Queen Anne, ihre einflussreiche Vertraute am Hof Lady Sarah Churchill und Abigail Masham, anfangs Zofe, die im Laufe des Films Sarahs Position am Hof einnimmt. Die Rahmenhandlung umfasst die politischen Machtspiele rund um den europäischen Krieg gegen Frankreich, die sich bekämpfenden und intrigierenden Fraktionen des Parlamentes und die barocken Lebensverhältnisse am englischen Hof zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Queen Anne (Olivia Colman) erscheint im Film leidend, nach Liebe gierend, traumatisiert von 17 toten Kindern und schwankend zwischen Berechnung und Hilflosigkeit. Ihre Vertraute Sarah (Rachel Weisz) wird gezeigt als klug, politisch einflussreich und sich ihrer Macht bewusst, aber auch zweifelnd zwischen Erpressung und Sehnsucht nach tieferer Verbindung. Die zunächst als Dienerin an den Hof gelangende Abigail (Emma Stone) verliert im Laufe der Entwicklung ihre anfängliche Naivität und reiht sich ein in den um das Machtvakuum an der Spitze tanzenden Hofstaat. Der Film überschreitet dabei in ansteigendem Rhythmus visuelle Schmerzgrade, er kontrastiert Barockmusik mit minimalistisch reduzierter Melodie und durchzieht alles mit einem grotesken Unterton. Am Ende ist Sarah verbannt und Anne und Abigail verbleiben in einer innerlich entleerten Hassliebe am Hof.

Das Thema Dominieren und Unterwerfen in Liebesbeziehungen wird in vielen Varianten gezeigt. Man sieht, wie die neu am Hof ankommende Abigail zunächst im Dreck landet und wie sie schnell lernt, nach oben zu kommen. Sie setzt ihren Körper ein, sie bemerkt die Bedürftigkeit der Queen und bietet sich als mitfühlende Gesprächspartnerin an, sie beginnt Politiker, die sie zunächst kontrollieren, umzudrehen und für ihre Zwecke zu benutzen und am Ende gelingt es ihr, die Konkurrentin auszuschalten. Zuneigung, Interesse und Empathie ihrerseits wird dabei immer mehr erkennbar als eine Hülle, in der das Erreichen von ehrgeizigen Machtzielen verborgen ist. Dagegen verliert die anfangs mächtige Sarah im Laufe der Zeit ihre Position. Sie war mit allen Winkeln der Persönlichkeit von Anne vertraut und fühlte sich dadurch sicher, aber auch etwas müde im Spiel des Beherrschens. Die auftauchende Konkurrentin wiederbelebt diese Seite in ihr, herausgefordert wird sie einfallsreich im Kampf, aber unterliegt. Der Film deutet an, dass Anne für sie mehr als reines Objekt war, und dass diese empathische Seite an ihrer Niederlage beteiligt war. Am Ende bleibt die Frage offen, ob der Ausstieg aus den quälerischen Machtspielen nicht auch ein Gewinn für sie war.

Queen Anne ist als Zentrum des Hofes die Spitze der Dreiecksbeziehung. Sie trägt in sich die absolute Macht einer Herrscherin ihrer Zeit, aber oft wirkt sie, als habe sie nicht die Kompetenzen diese zu gebrauchen. Ihre kognitive Begrenztheit, ihre körperlichen Einschränkungen und ihre Verlorenheit steigern sich oftmals ins Groteske. Ihre Mechanismen um in der Welt der Politik zu überleben, sind Anlehnen (an Untergebene), Sich-Fallen-Lassen (z.B. in Ohnmacht) und an Fallbeile erinnernde Befehle als kindlich wirkende Machtdemonstrationen. Im Film erhält sie gestalterisch die Aufgabe der Mitte des Bildes. Sie ist einerseits unschuldig, da sie ohne wählen zu können ihre Rolle am Hof erhält, andererseits perfektioniert sie sich selbst und übt die Basismechanismen von Kontrolle in Beziehungen aus, wie Erpressen, unterschwelligen Druck ausüben, Stimmungsumschwünge inszenieren, Sich-Unterwerfen, um die anderen zu beeinflussen, reale Macht ausspielen, drohen. Lanthimos nimmt sich viel Raum im Film, um Anne in ihrer Komplexität zu zeigen, so dass man sich einfühlen kann, aber gerahmt wird Annes Entwicklung durch hoffnungslose Zwangsläufigkeit. Entkommen kann sie den Vorgaben der Zeit nicht, und man bleibt nach dem Film mit der beunruhigenden Erkenntnis zurück, dass für sie nichts anderes möglich ist als Herrscherin zu werden und zu bleiben.

Lanthimos ist ein Regisseur der interpersonellen Kämpfe, eine Analytiker enger und zu enger Bindungen und der Bedingungen, unter denen diese sich in Zerstörung verkehren. In diesem Film inszeniert er das Thema Macht und Liebe in mitreißenden und abstoßenden, aber auch komischen Bilder. Er findet symbolische Szenen, wie einen mehrmals gezeigten Schieß-Wettbewerb zwischen den Konkurrentinnen Abigail und Sarah oder wenn Abigail wiederholt in den Dreck gestossen wird, steht dies für den rücksichtslosen Aufstiegswillen aus niederer Herkunft. Gift in Beziehungen wird ausgedrückt durch Annes Gichtanfälle, die wiederum von ihr instrumentalisiert werden, um Sarah oder Anne körperlich an sich zu binden. Annes Rollstuhlfahrten in den langen Gängen des Schlosses stehen für die Einschränkungen der seelischen Beweglichkeit der Figuren und ihre rasanten Fahrten innerhalb der Machtkämpfe.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich auffällige, explizit filmische Gestaltungsmittel. Es gibt viele Szenen, die mit der Kamera tief unten und/oder mit einem Fischauge-Objektiv aufgenommen wurde. So muss manchmal unvermittelt der Boden als Position eingenommen werden, was Unterlegenheit spürbar werden lässt. Oder die Wahrnehmung erscheint in gleicher Weise verzerrt, so wie die Wahrnehmung in einem von Zwang, Kontrolle, Machtfülle und Enthemmung bestimmten Lebenswelt es erwarten lässt. Die rasant in alle möglichen Richtungen geschwenkte Kamera wiederum zeigt inneren Aufruhr gegen die Zwänge der aktuell bestehenden Lebensformen als auch die Desorientierung, die die Zustände am Hof mit sich bringen. 

Die markanteste bildhafte Verdichtung gelang dem Film in den 17 Kaninchen, die Anne als Haustiere hält und die für ihre verstorbenen Kinder stehen, sie haben Namen und werden königlich versorgt. Auch sind sie ein Lackmustest für Nähe, den Abigail besser besteht als Sarah. Sie versteht die Symbolik und kümmert sich anfangs rührend um die Kaninchen, was sich aber im Laufe des Films als eine Strategie entpuppt. Die Schlussszene des Films bringt die Kaninchen wieder ins Bild. Anne befiehlt Abigail ihr die Beine zu massieren, sie kniet vor ihr und Anne greift ihr ins Haar. Da Annes Beine nicht gezeigt werden, erinnern Bewegung und Haltung der beiden an eine Fellatio, ein in der männlich-dominierenden Variante bekanntes Bild. Ihre leeren Gesichter dabei sieht man, kaum aushaltbar, nacheinander in Nahaufnahme. Im nächsten Schritt überblenden die beiden Gesichter, kurz darauf kommen weitere Ebenen mit hoppelnden Kaninchen dazu, nacheinander verschwinden die Frauengesichter und die Kaninchen ins Schwarze. In den drei Minuten Filmende verdichtet sich Macht und Entleerung, aber auch die Wucht von Zerstörung (tote Kinder) und die sich dennoch vermehrende Lebendigkeit, aber gefangen in Kaninchenkörpern.

„The Favourite“ von Giorgos Lanthimos erschien 2019 und er war ein Erfolg bei Publikum und Kritik, man kann ihn bei Amazon Prime streamen oder hier günstig als DVD erwerben. 

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„Swan Song“ – ein Film von Benjamin Cleary

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Bild: Apple TV

Am Jahresende wird man daran erinnert, dass im Leben ständig etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt, Verlust und Neuanfang sind wie eine sich in den Schwanz beißende Schlange. Wenn allerdings ein nahestehender Mensch stirbt, verliert man manchmal den zuversichtlichen Blick auf diesen Zusammenhang. Vielen Betroffenen fällt es schwer mit Hilflosigkeit, Trauer und Schmerz umzugehen. Oft fühlt es sich an wie eine Bootstour ohne Steuermann und Kompass, mit ungleichmäßig belasteten Seiten und rutschigem Boden, mit wechselnden Wetter und Untiefen. In kulturellen Produktionen, die ja der Gegenstand dieses Blogs sind, wird dieses Thema, wie flächendeckend in der westlichen Kultur, meist wenig thematisiert. Einen sehenswerten Beitrag dazu liefert der Film „Swan Song“ von Benjamin Cleary, eine Apple-TV-Produktion von 2021.

In einer nicht allzu fernen Zukunft wird die Geschichte Cameron Turners erzählt, der unheilbar erkrankt ist. Er beauftragt ein Unternehmen einen perfekten Replikanten zu erstellen (im Film Jack benannt), der unbemerkt von seiner ahnungslosen Familie seinen Platz einnehmen soll. Verbunden ist dieser Transfer mit einer Übergangszeit, in der Cameron seine Erinnerungen zur Verfügung stellt und Jack beim Einfinden in sein eigenes Leben beobachten kann. Cameron setzt dies in Gang, da er seiner Frau Poppy und seinem Sohn Leid ersparen möchte, denn Poppy hat vor einer Weile ihren geliebten Zwillingsbruder André durch einen Unfall verloren und ihre schmerzvolle Trauer machte Cameron stumm und hilflos. Nach vielen Zweifeln und Krisen im Übergangsprozess nimmt am Ende Jack Camerons Platz ein und die Technologie sorgt letztendlich dafür, dass das Duplikat vollständig vergisst, wie es entstanden ist. Der Film zeigt ineinander verschlungen den Beginn und die Vertiefung der Bindung zwischen dem Ehepaar, das Loslassen von Cameron und das Hineinwachsen des Anderen in sein neues Leben. Es ist ein ruhiger Film, der der Allgegenwart des Todes eine wunderbare Liebesgeschichte entgegensetzt.

Zunächst beeindruckend als Gestaltungsmittel des Films sind die Ruhe, das reduzierte, oft blaue Licht, die karge Architektur, die leeren Räume, die gewaltige (kanadische) Landschaft, der hyperreale Wald, die magnetische Klaviermusik (Jay Wadley). Zusammen mit der Tatsache, dass „Swan Song“ ein Science-Fiction Film ist, der unsere Gegenwart in wenigen, aber wichtigen Aspekten verändert zeigt, dies aber unerklärt lässt, entsteht eine Gefühl von Zeitlosigkeit. Als wäre man ungebunden, aber auch verloren, was unschwer als Anspielung auf Kennzeichen des Todes zu erkennen ist. Die andere Ebene des Films dagegen, fein und pointiert verwoben mit den bleiernen Todesanmutungen, erzählt von Verlieben, Gebären, Sterben und damit den historischen, den zeitgebundenen und diesseitigen Kennzeichen eines Menschenleben. Wie sich Cameron und Poppy kennenlernen, ist eine spielerisch-zarte Episode, das Schmuckstück des Films, zugleich herzzerreißend und hoffnungsvoll. Auch der Unfalltod von Poppys Zwillingsbruder André wird in seinen Folgen für die beiden erzählt, mit Schmerz, Sprachlosigkeit und Camerons Alpträumen. Und nicht zuletzt gibt es die Geschichte des Transfers von Cameron zu seinem Duplikat, die mit Zärtlichkeit und Streit, mit Berührungen, Wehmut und Abschiednehmen einhergeht.

Für meine Empfehlung des Films war ausschlaggebend, dass er in Bildern und im Kopf des Protagonisten, als ein Verstehender, zeigt, wie wichtig es für eine innere Veränderung ist, wenn man mit anderen Menschen über schwierige Themen und Probleme, aber auch einfach über sein inneres Erleben ins Gespräch kommt. Und dabei kann ebenfalls hilfreich sein, sich den eigenen Erinnerungen zu überlassen und diese mit anderen zu teilen. Auf dem Hintergrund von Camerons nie bearbeiteter Trennungserfahrung in der Kindheit, war die Trauer seiner Ehefrau über den Tod ihres Bruders für ihn nicht greifbar und nicht kommunizierbar. Poppy geht schließlich zur Psychotherapie, sie begibt sich auf den langen Weg der Veränderung, wird schwanger und sieht dem freudig entgegen. Cameron aber nimmt nicht wirklich daran teil, er erkrankt und verheimlicht dies seiner Frau. Die Erschaffung eines Doppelgängers soll ihr die Wiederholung des Leids ersparen, Opfern und Nicht-Sprechen erscheint für Cameron als der einzige Weg aus der sprachlos verfahrenen Situation heraus. Die Selbstopferung von Cameron bezieht sich nicht nur auf das körperliche Leben, darauf, dass er Poppy Leid erspart und dies auf sich nimmt (ein christliches Motiv), sondern auch darauf, dass seine Umgangsform mit dem Tod sich als nicht tragfähig erweisen hat. Jack dagegen, der mit dessen Erinnerungen allmählich zu Cameron wird, findet sich in diesem Prozess neu, er macht vieles anders als der alte Cameron. Er spricht mit seiner Frau, er nimmt ihre Angebote an, und er beschäftigt sich mit seinen/Camerons Alpträumen über den Tod von Andrè, erzählt sie, zeichnet sie und schenkt seiner Frau dieses Bild. Als die Zeichnung gerahmt an der Wand hängt, erhält das Nicht-Gesprochene einen Platz im Heim der neuen Beziehung.

Benjamin Cleary ist ein junger irischer Regisseur, der in zeitgenössischer Art das Doppelgänger-Motiv einsetzt, als ein bekanntes Science-Fiction-Element. Die starke Spannung des Films rührt aber daher, dass Jack als Camerons Duplikat die Funktion übernimmt, die schon viele vergleichbare Figuren in der Literatur übernommen haben. Sie sind ein Reservoir für Fremdes, Unbekanntes und Schwieriges im eigenen Selbst, beide sind zwei Seiten einer Persönlichkeit. Jack steht für einen Neuanfang aus den abgewehrten Anteilen Camerons, aus seinen ungreifbaren und unbesprochenen leidvollen Erfahrungen und seinen nicht gelebten Wünschen und Fähigkeiten. Metaphorisch kann der Doppelgänger als das im Selbst hergestellte Unbewusste gesehen werden, und die Beziehung zwischen Cameron und Jack demnach als ein Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst. Dazu gehören auch die Fragen, wer man in seinen Augen und den Augen anderer ist, ob man noch „Ich“ sein kann, wenn man seine Familie verlässt und stirbt, wenn man vieles verheimlicht oder sich opfert. Klassischerweise kann der Doppelgänger als Reflexion der eigenen Identität gesehen werden, tiefenpsychologisch als Schatten, der unbewusste Anteile spiegelt und damit das Selbstverständnis in Frage stellt.

Den Aspekt der Sprachlosigkeit versinnbildlicht der Film in der mehrmals einsetzenden vollständigen Tonlosigkeit, ein Verstummen des Mediums, erinnernd an die Ursprünge als Stummfilm und wiederum verweisend auf den Tod. Auch verschiedene Trauerphasen sind im Film dargestellt, Wut, Depression, Verleugnung, Akzeptanz, verteilt auf unterschiedliche Personen. Eine herausragende Rolle spielt Mahershala Ali in der Doppelrolle als Cameron und Jack, sein Gesicht ist tragend im Ausdruck vielfältiger seelischer Zustände. Eine ausführliche Filmanalyse müsste auch die Rolle von Dr. Scott (Glenn Close) als Vertreterin des duplizierenden Unternehmens einbeziehen, eine Art Charon, also Fährmann der griechischen Unterwelt, der die Verstorbenen ins Totenreich bringt. Sie lockt, treibt an, begleitet, wirkt unheimlich, mütterlich oder auch zwiespältig. Oder die Doppelung der Beziehung von Cameron und Poppy in der Beziehung zwischen Cameron und Kate, die sich ebenfalls hat ersetzen lassen und im Laufe des Films stirbt. Cameron und Kate sprechen miteinander über das Sterben, was ihm mit seiner Frau nicht möglich war, und er begleitet sie in den Tod, was er seiner Frau nicht zumuten wollte beziehungsweise nicht gestattet hat.

Den Film „Swan Song“ kann man bei Apple TV streamen, der Regisseur Benjamin Cleary schrieb auch das Drehbuch. Er bekam 2016 einen Oscar für seinen ersten Kurzfilm „Stutterer“, eine berührende Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen, deren Kommunikationsfähigkeiten eingeschränkt sind (Stottern und Gehörlosigkeit). Axel Weidemanns Besprechung bei FAZ online ist lesenswert, er sieht ebenfalls den Kern des Films in der Auseinandersetzung mit dem Tod.

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„Charlie Says“ – ein Film von Mary Harron

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©️IMDb 2018

Im Alltag ist mir ab und an die Frage nach dem Bösen begegnet, ob es existiert, woher es kommt, wie ihm beizukommen ist. Und ob man überhaupt vernünftigerweise danach fragen kann, in einem westlichen Land, im Jahre 2021. Wissen nicht alle, dass es eine moralische Kategorie ist, die religiösen Ursprungs ist, und dass man mit der Frage danach den Tendenzen zu Ursachenidentifizierung Vorschub leistet, die eventuell mit Erschauern ob des Göttlich-Bösen einhergehen? Aber wie nähert man sich als „böse“ bezeichneten Phänomenen, ohne in solchen Kategorien zu verbleiben? Und ist dies mit filmischen Mitteln möglich?

Im Film „Charlie Says“ (2018) geht es um die Tate-LaBianca-Morde durch die Manson Family in Kalifornien 1969. Die zwei Kraftzentren des Films sind Charles Manson (Matt Smith), der eine Gruppe junger Menschen dazu brachte, sieben Morde zu begehen und als Gegenpart Karlene Faith (Merritt Wever), damals Lehrerin und Menschenrechtsaktivistin, später Professorin, die drei verurteilte junge Frauen aus der Manson-Gruppe im Gefängnis unterrichtete und später über die dabei gewonnenen Erkenntnisse ein Buch schrieb. Abwechselnd wird im Film der Weg der Manson-Gruppe hin zu den Morden und die Annäherung zwischen Karlene und den drei Frauen im Gefängnis gezeigt. Der Film ist gründlich recherchiert und wagt eine Darstellung, in der Charles Manson mit seinen manipulativen Fähigkeiten zwar stark in den Vordergrund rückt, den inneren Welten der jungen Frauen aber ebenfalls genau nachgespürt wird. Und er befragt nicht die Lebensgeschichte und Persönlichkeit der drei Frauen auf Ursachen hin, sondern indem er genau dies weglässt, zeigt er das Bedingungsgefüge grenzüberschreitender Gewalt als ein systemimmanentes Geschehen.

Als eine dieser Bedingungen wird gezeigt, dass in der Mansongruppe grundlegende Vorgehensweise christlicher Religionsgemeinschaften verwendet werden, fest verankert in der Gruppe und von Neuankömmlingen sicherlich als kulturell sehr vertraut wahrgenommen (USA der Sechziger Jahre). Es findet ein Initiationsritus statt, ein neuer Name wird verliehen, die Außenwelt mit Nachrichten, Büchern (außer der Bibel) und kritischen Fragen wird abgeschnitten, die Vergangenheit lässt man hinter sich, eine Art Hostien werden verteilt und die Gruppe nimmt gemeinsam an der Geburt von Manson Sohn teil. 

Als Kontrast zu dieser quasireligiösen Struktur wird viel entgrenzte Körperlichkeit gezeigt. Es gibt exzessives Berühren, ekstatisches Wahrnehmen dieser Berührungen und das nachfolgende Auffangen durch die Gruppe, bis hin zu Momenten, in denen alle alle anderen anfassen. Durch die Verwendung der körperlichen Ebene findet eine höchst wirkungsvolle und erregende Grenzauflösung statt, die man als Ent-Individualisierung bezeichnen kann. Ebenfalls zur Auflösung der Grenzen erlebter Individualität trägt bei, dass sich feste Regeln mit nicht geregelten Bereichen des Lebens abwechseln, wobei rätselhaft bleibt, was wann seine Gültigkeit hat. Dadurch verbleibt man in einem andauernden Zustand der Ungewissheit und Beunruhigung, was man wann machen darf, was sanktioniert wird und worauf man sich verlassen kann. 

Ent-Individualisierung wird gezeigt als etwas, das beunruhigend ist und zur Suche nach etwas führt, das einem neuen Halt geben kann. Der Film zeigt dazu das Vorhandenseins einer Art Pseudotheorie mit Erklärungen über die Ereignisse in der Welt, mit Fremdwörtern, scheinbaren Zusammenhängen und einer Zukunftsvision. Wenn etwas Ungewohntes geschieht, zum Beispiel heftige Krämpfe bei einem Orgasmus, wird eine Formel angeboten: “So stirbt dein Ego“, und ein unbekanntes und schwer greifbares Erlebnis wird in eine verständliche Form gebracht.

Ähnlich stabilisierend ist auch das ständige Gitarrenspiel von Manson, überall hörbar, in der Wirkung einem Mantra ähnelnd. Es kann sich als  Untergrund in die seelische Struktur festsetzen und verhindert, dass man etwas erlebt und denkt, das sich auf etwas anders als das Mantra bezieht. Ähnlich der Meditation, die unter anderen Bedingungen und Rahmen durchgeführt wird und daher anders gelagerte Ergebnisse erbringt, bindet das Gitarrenspiel alle innere Bewegung an sich. Es wird aber nicht wie in der Meditation ein Rückführen in einen befreienden Zustand angestrebt, sondern es wird permanent an Charles Manson erinnert, der die Personifizierung der Gruppengesetze ist.

In dieser Spannung zwischen Ent-Individualisierung und Angeboten zum Neu-Erfinden bindet das übermäßige Großartigkeitsgefühl von Charles Manson die anderen Gruppenmitglieder aneinander. Dies wird besonders deutlich, wenn eine Gefährdung dieses Ideals auftritt. Ein auf die Ranch eingeladener Musikproduzent bietet Manson keinen Plattenvertrag an, ja er behandelt ihn herablassend. Der Produzent steht stellvertretend für die Außenwelt, die die Selbst-Erhöhung der Glaubensgemeinschaft abwertend behandelt, starke Risse im Gruppengebäude entstehen und fordern stärkere „Reparaturen“. Das Sicherungssystem für die Idealisierung ist schon immer kraftaufwändig gewesen, die aktuellen Maßnahmen brauchen nun mehr Energie, mehr Libido, mehr Gewalt, dadurch steigert sich die Bedeutung der Gruppenbindung und auch des Einsatzes, und die, die den Einsatz erbringen müssen, fühlen sich stärker an etwas Großartigem beteiligt.

Die die Grenzen des Individuums ersetzenden Bindungskräfte der idealen Gruppe sind bei den drei inhaftierten Frauen auf so fruchtbaren Boden gefallen, dass noch Jahre später der für sie nicht mehr real vorhandene Charles Manson das Zentrum der inneren Struktur darstellt. Er lebt weiter in ihnen und dadurch mit ihnen und sie richten sich nach ihm aus. Karlene, die Lehrerin im Gefängnis, ist die Figur, die stellvertretend die Fassungslosigkeit der Zuschauer zeigt, in Mimik und in kurzen Gesprächen. Ihr „Unterricht“ mit den drei Frauen ähnelt der Erziehungsarbeit mit Vorschulkindern, denen behutsam etwas von der Welt draußen erzählt wird und deren moralische Grenzen noch entwickelt werden müssen. Dabei stößt Karlene an die Grenzen der implantierten Glaubensgemeinschaft, ist sich aber auch im Klaren darüber, dass eine Befragung der Gruppenstruktur eine große Erschütterung sein kann. Die Dimension der begangenen Taten zu erfassen könnte eine lebenslange Hölle der Schuld eröffnen, was wiederum die Kraft verständlich macht, mit der lange am Gebäude festgehalten wird. Karlene begibt sich in diesen mühsamen Prozess mit unterschiedlichen Ergebnissen und ist im Film damit das Gegenbild zur Selbst-Erhöhung in der Gruppenbindung.

„Charlie Says“ regt an, sich über Prozesse der Gruppenbeeinflussung Gedanken zu machen, und sich zu den gezeigten Bilden zu positionieren. Man kann die realen Ereignisse nachrecherchieren, oder auch zu den aktuellen wissenschaftlichen Konzepten der Selbstpsychologie zur frühen Entwicklung nachlesen. Der Zusammenhang von Gewalt und Sexualität ist in meinem Beitrag zu kurz gekommen, könnte aber ein eigenes Essay füllen. Auch Farbgestaltung und Raumwirkung als filmische Mittel wären erwähnenswert, der Begriff des Charismas könnte psychologisch analysiert werden, das Bild des Rattenfängers taucht auf und die angedeutete Wirkung der Aufbruchsstimmung der Sechziger ist historisch interessant. 

Quentin Tarantinos Film „Once upon a Time in Hollywood“, ebenfalls von 2019, nutzt die Morde eher als Vorlage, um in seinem Film doch noch Gewaltbilder unterzubringen und in der zweiten Staffel (Folge 6) der sehenswerten Netflix-Serie „Mindhunter“ wird Charles Manson von einem FBI-Profiler verhört und eine ganz andere Lesart der Schuldfrage wird angedeutet. 

„Charlie Says“ (2018) findet man z.B. auf Amazon Prime, Mary Harron ist auch die Regisseurin von „American Psycho“ (2000), einer Romanverfilmung, in der es um einen gefühlskalten Serienmörder (Christian Bale) geht (Amazon Prime oder Netflix). Merritt Wever spielte die einfühlsame Polizistin in der Serie „Unbelievable“ (Netflix 2019), in der es um die Aufarbeitung einer Vergewaltigung geht. „Mindhunter“ (ab 2017, Netflix) von Joe Penhall behandelt den Beginn der Profiling-Abteilung des FBI und nimmt sich viel Zeit für die Gespräche mit den Serienmördern. „Once upon an Time in Hollywood“ (2019, Tarantino) findet man bei Amazon Prime, und das Buch von Karlene Faith heißt: “The Long Prison Journey of Leslie Van Houten: Life Beyond the Cult“ (Northeastern University Press, 2001)

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„Sex Education“ – eine Netflix-Serie von Laurie Nunn

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©️Netflix 2019

Mit welchen Themen man sich „richtig lebendig“ fühlt, hängt sicherlich auch davon ab, wie alt man gerade ist. Humor und Sex stehen allerdings meist in jedem Lebensabschnitt ganz oben auf der Liste, egal was gerade bewältigt werden will. So kann die britische Serie „Sex Education“ den verschiedensten Altersstufen Freude bereiten, auch wenn sie wie eine Teenager-Komödie konzipiert ist. Zur Empfehlung hat sie es bei mir gebracht, weil sie ohne Abwertungen und ohne allzu flachen Humor Sex-Probleme von Jugendlichen klar und deutlich thematisiert, Lösungen vorschlägt, ausprobiert und verwirft und man sich dabei auch noch gut unterhalten fühlt.

Otis ist ein Außenseiter in der Oberstufe, er kämpft zu Beginn der Serie mit dem Problem nicht onanieren zu können und als Sahnehäubchen ist seine Mutter eine alleinerziehende Sextherapeutin mit Bindungsängsten. Otis‘ Interesse an Statushebung bringt ihn eher zufällig mit der sexuell erfahrenen Maeve zusammen, die immer Geld braucht, da sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen muss. Gemeinsam bieten sie Sexberatung gegen Geld an, da alle um sie herum ständig in sexuellen Problemen stecken, aber Wissen und Erfahrung oft fehlen. Auf diese Art können eine Reihe an Themen wie Potenzprobleme, Homophobie, Massenhysterie bei Chlamydieninfektionen, sexuelle Belästigung, Onanieren, Vaginismus und andere vorgeführt und auf eine unpädagogische Art durchdrungen werden.

Man kann zum Beispiel miterleben, wie es einem Paar ergeht, wenn sie nur Sex im Dunkeln haben kann: beide fallen aus dem Bett und verletzen sich. Auf einer Party trifft Otis zufällig in einem Badezimmer auf die beiden, und kann etwas Wichtiges herausbekommen: Sie meint, er fände sie nicht attraktiv. Otis hat zunächst wie alle Berater und Therapeuten mit Widerständen zu kämpfen, kann aber den beiden, während sie Rücken an Rücken sitzen, herauslocken, was er an ihr und sie an sich mag. Dabei gibt Otis Anleitung, ermuntert aber auch zu eigenen Worten und hält offene Momente offen – tatsächlich scheint er etwas von einer Mutter gelernt zu haben. Das Paar geht gestärkt aus dem Gespräch heraus, sie trauen sich etwas zu, was aber ebenso für Otis zutrifft, der zu einer neuen Rolle findet.

Ein weiterer „Fall“ ist ein vorgespielter Orgasmus bei dem machohaft auftretenden Adam, Sohn des strengen Rektors, der seine Erektions- und Ejakulationsprobleme vor seiner Freundin Aimee verbirgt, aber mit übermäßigem Viagrakonsum eine Lösung versucht. Sein angeschwollener Penis spielt auf Hollywoodkömodien an, aber anders als in diesen sucht er das Gespräch mit Otis. Der jugendliche „Sextherapeut“ macht vieles richtig, fragt nach dem Leben als Rektorssohn, gibt Adams Problem einen Namen (performance anxiety), benennt den Druck, der von dem Schulmythos seines riesigen Penis ausgeht und gibt ihm eine Formel an die Hand. Own your narrative, frei übersetzt: Nimm selbst in die Hand, wie über dich gesprochen wird! Als typisch für die Machart der Serie und auch als Anzeichen für die Realitätsnähe kann Adam nun zwar zu seinem Geschlechtsteil stehen (sogar nackt und öffentlich), aber ein neues Problem tut sich auf, denn sein wiedergewonnener Orgasmus führt dazu, dass seine Freundin mit ihm Schluss macht. Ihre Annahme, dass sie verantwortlich für seine Probleme war, also ihn zum Glück bringen musste, hielt sie in der Beziehung. Seine vermeintliche Stärke und ihre Unfähigkeitsgefühle ergänzten sich, sie konnte ihre inneren Selbstabwertung bestärken und er konnte seinen inneren Druck lange von sich fernhalten. Auserzählt wird dies alles nicht, aber es wird pointiert, manchmal zugespitzt inszeniert, und die Komplexität darin wird nicht vernachlässigt.

Im Jahr 2021 gibt es im westlichen Kulturkreis Informationen zur Sexualität auf vielen Wegen, manchmal mehr als man konsumieren kann. Speziell für Jugendliche ist vieles immer früher erreichbar, eine Studie von 2017 nennt als Durchschnittsalter für den Erstkontakt mit Pornos 12,8 Jahre an, gleichzeitig gibt es für die Jugendlichen oft keine Möglichkeiten, das Gesehene einzuordnen. 50 % der Erstkontakte mit Pornos im Internet seien ungewollt, über Zufallsfunde oder von Freunden gezeigt, und das Reden über die eigene Sexualität sei unter vielen Jugendlichen immer noch ein Tabuthema. 

„Sex Education“ tritt nicht mit dem Anspruch auf, dies ändern zu wollen, aber Potential etwas dazu beizutragen hat sie. In inzwischen zwei Staffeln mit je acht Episoden werden die vielfältigsten sexuellen Themen und Probleme Jugendlicher im Alter von 16 Jahren mit Humor und zugleich Wohlwollen vorgeführt und mit Lösungsangeboten versehen, meist ohne pädagogischen Zeigefinger. Dabei kommen die unterschiedlichsten Themen vor, aber immer wird gezeigt, dass die Basis für sexuelle Probleme in den Beziehungen der Beteiligten untereinander und zu ihrem Umfeld liegt. Hier ist der Ansatzpunkt für Veränderung, aber es wird daraus nicht gefolgert, sexuelle Dinge nicht direkt anzugehen, denn auch dafür bietet die Serie ausreichend Handhabe.

Die verwendeten Gestaltungsmittel der Serie sind für eine Comedy-Serie unerwartet vielschichtig. Es geschieht zum Beispiel eine Verdoppelung der jugendlichen Verstrickungen bei den erwachsenen Paaren, so dass man sich viele Themen mit anderen Komplikationen 30 Jahre später anschauen kann. Dies zeigt auch eine wichtige Dimension der sexuellen Entwicklung Jugendlicher: Sie findet nie ohne Erwachsene statt. Die Teenager tragen in sich teilweise Identifizierungen mit ihren Eltern oder anderer Bezugspersonen, aber wollen vieles anders machen, sie schauen genau hin, oder wenden sich peinlich berührt ab, aber ohne sie geht es nicht. Die Verortung des Geschehens ist zwar zeitlos, der Soundtrack schöpft allerdings aus dem Besten, was die Siebziger zu bieten haben und weist damit auf den sexuelle Befreiungsmythos dieser Ära hin, der allerdings leerlaufen musste, da jede Generation sich unter dem Einfluss der Vorläufer entwicklen muss.

Symbolisch kommt in der Figur Otis vieles zusammen, was junge Menschen in diesem Alter heutzutage charakterisiert: Sie sind unsicher, zaghaft, gehemmt, eckig, verwirrt unter dem Eindruck der hormonellen Reifung und zugleich verfügen sie über Zugang zu einem großen Repertoire an Wissen über seelische Symptome, Krankheiten, Sex und Beziehungsmustern. Dass dabei einiges Wissen nur scheinbar ist, und dahinter  Unsicherheiten und unbewusste Konflikte stecken, ist etwas, das in der psychotherapeutischen Praxis nicht unbekannt ist.

„Sex Education“ ist eine Netflix-Serie von 2019, die erste Staffel wurde allgemein gelobt, die zweite leidet etwas unter den Ansprüchen des Erfolges, und bald soll es eine dritte geben. Auf jeden Fall wird man mit Witz in die eigene Jugendzeit versetzt und bekommt dabei ein Gespür dafür wie es heute ist, Teenager zu sein, auch lernt man etwas darüber, wie man über Sex sprechen kann, und manche Information mag auch für Erwachsene neu sein. Die Studie zum Erstkontakt Jugendlicher mit Pornographie im Internet findet man hier.

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„Black Swan“ – ein Film von Darren Aronofsky

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©️Searchlight Pictures

Meine letzte Empfehlung an dieser Stelle galt einem filmischen Plädoyer für menschliche Bindungen als Basis für heilsame Veränderungen („Good Will Hunting“). Vielleicht geschah dies aus der pandemisch bedingten Situation heraus (November 2020, Lockdown light). Das Sars-2-Virus torpediert bekanntermaßen Kontakte unter Menschen, da es sich dadurch vermehrt und so für seine Wirte gefährlich wird, also vermissen wir alle das Miteinander und wünschen es uns zurück. Heute soll ein Film besprochen werden, der vor Augen führt, welches Gift sich in einem Menschen ausbreiten kann, wenn die prägenden Bindungen zu wenig Spielraum für eine eigenständige Entwicklung lassen.

Bei einer Filmanalyse ist für mich eine wesentliche Frage die, ob der Film in Inhalt und Form kongruent oder dissonant ist. Also ist der Film in Szenenaufbau, Montage, Text, Setting etc. so gestaltet, dass die Themen des Films analog ausgedrückt werden, oder entsteht eine Spannung durch Unterschiedlichkeit? Wenn die Netflix-Miniserie „Damengambit“ durch stilisiertes Produktionsdesign glänzt, so wird die Ödnis des Waisenhauslebens durch die Gegensätzlichkeit spürbar. Oder die schlammige Farbgebung und die spannungsreduzierte Musik im Film „Spotlight“ doppeln die Darstellung von nüchterner und mühsamer Journalistenarbeit. Auch die Wirkung eines Films im Erleben der Betrachter kann man bezüglich Kongruenz oder Dissonanz befragen, und das war für mich der Einstieg in die Empfehlung zu „Black Swan“. Meine auch beim dritten Anschauen wiederkehrende innere Ablehnung und Entwertung des Films war sehr hartnäckig: “Symbolhammerartige Verwendung von Schwarz und Weiß, Spiegelbilder, Doppelgänger, E.T.A. Hoffmann kann das besser etc..“ Bis ich bemerkte, dass sich unmittelbar Aspekte seines Themas in mir abgebildet hatten, insbesondere die hinter dem Perfektionsstreben der Hauptfigur liegenden Entwertungserlebnisse, die in mir durch Abwerten abgewehrt werden sollten. Der Film wurde auch von anderen als ein Sandwich angesehen, außen plakativer Horrorfilm, innen Analyse des Perfektionsstrebens. Und so kann er auf der ersten Ebene abgelehnt werden, um damit die zweite Ebene nicht zu spüren. 

Erzählt wird vom Aufstieg der jungen Balletttänzerin Nina (Natalie Portman), die die Hauptrolle in Tschaikowskis „Schwanensee“ bekommen hat und damit in eine Spirale von Leistung und Perfektion gerät, die das Malträtieren ihres Körpers im Tanzen, aber auch in Selbstverletzungen steigert. Ohne ihren Körper jemals erotisch erlebt zu haben, wird sie von der Mutter (Barbara Hershey) als ihren Besitz behandelt, mal als Babypuppe, mal als erfolgreiche Tochter, die die eigenen Erfolgswünsche als gescheiterte Tänzerin erfüllen muss. Der Choreograph Thomas (Vincent Cassel) fordert, sie solle sich aus ihrer Perfektion lösen, um die schwarzen, verführerischen Seiten der Rolle ausfüllen zu können, und die Mittänzerin Lily (Mila Kunis) wird dafür zum Vorbild, was sie für Nina begehrenswert, aber auch zum Neidobjekt macht. Nina verliert schrittweise den Bezug zur Wirklichkeit, den Anforderungen der Entwicklung zu einer erwachsenen Frau ist sie kaum gewachsen und in ihrem großen Auftritt bringt sie ihre schwarze Seite hervor, aber verletzt sich dabei selbst so sehr, dass am Ende sowohl ihr Tod als auch ihr Weiterleben möglich erscheinen. 

In „Black Swan“ wird mit den Methoden des Horrorgenres gearbeitet, es gibt Schreckmomente, Gänsehaut, Ekel, man sieht dunkle Schatten und sattes Blut, zweifelt an Identitäten und erkennt Teile der Filmhandlung als Halluzination. Es sind bekannte Schubladen, aber das Gesicht der Hauptfigur zeigt auch oft unvermittelt und authentisch das Innere eines Menschen, in dem die Sucht nach der Selbstquälerei am Körper mit dem Wunsch nach Lebendigkeit kämpft. Natalie Portman tanzte in ihrer Jugend, sie bereitete sich ein Jahr auf die Rolle vor und ihr Gesicht transportiert Erfolgsdruck, Hingabe, Sehnsüchte und Kindlichkeit, Verzweiflung und Lebenswillen, manchmal so intensiv, dass man irritiert ist und sich fragt, ob sie die Rolle verlassen hat.

Im Film gab es keine positive Identifizierungsangebote, keine Sympathieträger, keine tragfähige Hoffnung auf Weiterentwicklung, nur Beziehungen, in denen eigene Interessen durchgesetzt werden, nur Streben nach Perfektion und Abgleiten in Wahnsinn. Wenn es zu Selbstverletzungen bei seelischen Störungen kommt, so ist der Hintergrund oft, dass der eigene Körper als Ort für eine Auseinandersetzung herhalten muss, die anders nicht geführt werden kann. Die autoaggressiven Tendenzen zeigen die Wut gegen intrusive und/oder fehlende Bezugspersonen, die aber keine Ausdrucksformen innerhalb dieser Bindungen finden kann, sondern gegen das eigene Leben gerichtet wird. Freier werden kann die Entwicklung, wenn es zu einer reiferen erotischen Beziehung kommt, hier wartet im Film allerdings nur der mit seiner Primaballerina Erfolg suchende Choreograph, der seine ‚Objekte‘ gerne „meine kleine Prinzessin“ nennt. Ein Silberstreifen am Horizont ist Ninas Zweitbesetzung Lily, die feiert und genießt, wütend und mitfühlend sein kann und Freundschaftsangebote macht. Nina halluziniert gegen Ende des Films, dass sie Lily tötet, stößt aber sich selbst die Spiegelscherbe in den Bauch. Sie tötet die Lily in sich, damit sie ihr perfektes Ziel erreicht. Der Grundkonflikt zwischen lebendiger Anteilnahme und todesnaher Perfektion wird vom Regisseur am Ende nicht aufgelöst und läßt damit die Seele entweder resigniert oder kämpferisch fürs Leben zurück.

Wie immer fehlen in meinem Beitrag zu diesem Film einige Aspekte. So könnte man über die Rolle der Mutter diskutieren, die sicher psychologisch vereinfacht angelegt ist, ebenso über die Doppelgängerthematik und die Farbsymbolik des Films. Auch Rezensionen sind lesenswert, spiegeln sie doch die Breite der Wirkung eines Werks. Andreas Borcholte spürt im Spiegel die Intensität der Bilder, ordnet den Film in Aronofskys Werkreihe ein und konstatiert ein Verwischen zwischen Realität und Leinwandgeschehen, analog zu den im Film dargestellten Grenzverwischungen und für Rabea Weihser in der ZEIT ist es ein „Strumpfhosenthriller“, der von der Hauptdarstellerin gerettet wird.

„Black Swan“ (2010) von Darren Aronofsky kann man für wenig Geld bei medimops kaufen, Natalie Portman bekam für ihren Rolle den Golden Globe und den Oscar (und sie fand bei den Dreharbeiten ihren Ehemann).

Filme und Serien

„Good Will Hunting“ – ein Film von Gus van Sant

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©️Miramax Pictures

Gestern hört ich beim Radfahren ein Interview mit Yuval Harari, dem Universalhistoriker und öffentlichen Intellektuellen. Er ist ein guter Wissenschaftskommunikator mit breitem Wissen, und ein bereichernder Begleiter, wenn auch als Vielredner manchmal anstrengend. Danach aber rumorte die im Interview aufgebrachte Frage nach dem Sinn des Lebens weiter in meinem Kopf. Religionen antworten darauf, mal mehr, mal weniger flexibel, und im aktuell weit verbreiteten Individualismus wird die Frage vielleicht wie eine Rollenfindung in einem Script behandelt: Wenn das Leben Hamlet spielt, bin ich dabei die Königin?

Wie aber würde ich eine Antwort geben, wenn ich gefragt würde? Gerne breche ich in meiner Arbeit als Psychotherapeutin solche Fragen herunter auf alltägliche Situationen. Ausgehend von dem, was mir der gegenübersitzende Mensch ohne großes Allgemeinwissen erzählen kann, frage ich weiter und weiter, höre darauf, welche Themen oder Spannungen darin zum Ausdruck kommen, was nicht explizit gesagt wird, was man befragen sollte und was man vielleicht ein wenig anders sehen oder machen kann. Was aber in meiner Arbeit dabei umfassend und grundsätzlich sinngebend wirkt, ist die gemeinsam gestaltete, reale menschliche Beziehung. 

Der Mensch wird geboren, ohne alleine überleben zu können, er ist lange auf anderer seiner Art angewiesen und könnte nicht überleben, würde er nicht eine dyadische Beziehung eingehen. Eine Beziehung, in der er sich als abhängig erlebt, aber auch als getragen und unterstützt und er kann diese Beziehung innerhalb seiner Möglichkeiten in einer Entwicklung gestalten. Auf andere angewiesen zu sein ist eine Urerfahrung, die ein Einzelwesen tiefgründig prägt und mit der sich dieses sein Leben lang auseinander setzt. 

Es gibt viele Filme, die das Zusammenkommen zwischen zwei Menschen explizit thematisieren und in einigen geht es dabei auch um die Behandlung einer seelischen Störung. Im Film „The King`s Speech“ z.B. wird die erfolgreiche Behandlung des Stotterns des englischen Königs Georg VI durch einen australischen Sprechtherapeuten beschrieben, die nicht unwesentlich auf der besonderen Beziehung der beiden beruht. Der hier empfohlene Film „Good Will Hunting“ (1997) ist allerdings doppelt gut für das Thema geeignet, denn es geht um die frühe Bindungsstörung eines jungen Mannes, die im Erwachsenenalter mit Hilfe einer Bindung behandelt wird. 

In dem insgesamt eher herkömmlich inszenierten Film geht es um den jungen Hilfsarbeiter Will (Matt Damon), der als Waise in einem Freundeskreis eine feste Stütze gefunden hat, aber auch oft Probleme hat, seine Gewaltausbrüche in den Griff zu bekommen. Seine mathematische Spezialbegabung zeigt er in einer Eliteuniversität, indem er nachts auf dem Flur mathematische Probleme löst. Er wird entdeckt und von einer drohenden Haftstrafe entbunden, wenn er sich sowohl mit einem Matheprofessor als auch mit einem Psychotherapeuten regelmäßig trifft. Eine Entwicklung wird in Gang gesetzt, in der es um den Aufbau von Beziehungen geht, parallel gezeigt in mehreren Zweierkonstellationen. Zentral ist dabei die Arbeit des Psychologen Sean McGuire (Robin Williams), der sich auf einen intensiven Austausch mit Will einlässt. Beide gestalten diese Begegnungen mit vielen Preisgaben, aber auch mit seelischem Gewinn. Der Psychologe lässt Will oft an seinem inneren Weg teilhaben und gerade das bewirkt Veränderungen. Parallel dazu erlebt Will seine erste Liebesbeziehung und gerät dabei in die Themen Annäherung, Vertrauen, Abhängigkeit und Angst vor Verlassenwerden. 

In Wills ersten Treffen mit Sean macht dieser alles richtig um den Kontakt zu Will herzustellen (ruhige Grundstimmung, keine starken Affekte zeigen, Gemeinsamkeiten suchen, auf Themen des Patienten eingehen, keine Ironie verwenden). Will aber ist von Anfang an nicht in der Lage sich zu öffnen und sucht nun in Seans Zimmer nach Ansatzpunkten, um das Gespräch auf diesen zu lenken und ihn zu beeinflussen, eventuell um wieder, wie schon bei den Kollegen, weggeschickt zu werden. Über ein von Sean gemaltes Bild rekonstruiert Will klug interpretierend dessen Einsamkeit und Trauer und wirft ihm daraus abgeleitet Deutungen an den Kopf, immer weiter, bis er am Ende sagt, er habe die falsche Frau geheiratet, sie habe ihn wohl mit jemandem betrogen. Sean kann sehr lange diese verbalen Schläge professionell abfedern, schließlich aber würgt und bedroht er Will. Beide werden in Nahaufnahme gezeigt, mit wütend-leeren Gesichtern, der Kontakt ist entgleist und es kommt zu einem Zusammenbruch der Beziehung. Der Film zeigt danach noch den Wechsel von Wut in Traurigkeit in Seans Gesicht und es wird ausgesprochen, dass er ihn weiterbehandeln wird.

Will kommt zum nächsten Termin wieder und Sean macht etwas Bemerkenswertes. Er erzählt ihm, wie er selbst mit Wills Verletzungen umgegangen ist, dass er lange nicht schlafen konnte, aber irgendwann verstanden habe, dass Will nicht wisse was in ihm, Sean, vorgehe, da er seine Lebenserfahrung nur aus Büchern erworben habe, und kaum eigene Erfahrungen über Liebe, Bindung und große Nähe zu einer Frau habe. Und entsprechend wisse er selbst auch nicht, wie es für Will gewesen sei, als Waise aufzuwachsen, nur weil er mal Oliver Twist gelesen habe. Im Grunde hält er einen Vortrag zum Thema Einfühlung, und dass er selbst nicht wissen könne, was in Will vorgehe, wenn dieser es nicht wagt, etwas von sich zu erzählen. Es ist ein Weg, Will zu zeigen, wie man mit einer großen Komplikation in einer Beziehung umgehen kann, und wie es danach weitergehen kann, z.B. mit Verstehen-Wollen und mit einem Gesprächsangebot. Im weiteren Verlauf der Gespräche werden Themen wie Bindungsangst, Schuldzuschreibung und Umgang mit Traumatisierung behandelt, auch Trennungen bekommen ihren Raum, aber immer innerhalb der gemeinsam gestalteten Beziehung.

Die anderen Zweierkonstellationen des Films sind Varianten zum Thema menschliche Bindungen und was diese aushalten können. Wills bester Freund Chuckie (Ben Affleck) gibt ihm Halt und Beständigkeit, aber er wünscht sich auch, dass Will mehr aus sich und seinem Talent mache, und als er Will davon erzählt, kann dieser sich damit leichter lösen. Das Mädchen, in das sich Will verliebt (Minnie Driver), begegnet ihm auf seinem Terrain, scherzt mit seinen Freunden und geht mit ihm zum Hunderennen, aber sie will auch mehr, fragt nach seiner Familie, will ihn besser kennenlernen und fordert, dass er weitere Schritte in die Intimität mit ihr mache. Gerry (Stellan Skarsgard) als Seans Studienfreund hat mehr Ehrgeiz als dieser, aber er konnte seinem Freund in der Trauer nicht beistehen, ihre unterschiedlichen Charaktereigenschaften werden deutlich, aber sie können am Ende damit leben.

Der Film endet mit großen Wagnissen, sowohl Sean als auch Will machen sich auf eine Reise mit offenem Ausgang, Sean möchte aus seinem selbstgebauten seelischen Gefängnis herauskommen, Will sucht sein geliebtes Mädchen. Im November 2020, aber auch zu anderen Zeiten kann man Filme sehr genießen, in denen der Mehrwert menschlicher Bindungen und Kontakte bebildert wird und man im Miterleben einer Geschichte sich deutlich machen kann, dass der Mensch im Tiefsten ein soziales Wesen ist.

Wer etwas zur Bindungstheorie lesen möchte, dem sei Peter Fonagy (z.B. „Bindungstheorie und Psychoanalyse“) empfohlen, aber man findet dieses Thema in allen modernen psychotherapeutischen Konzepten. Intersubjektive oder relationale psychodynamische Behandlungskonzepte greifen die hier angesprochene Vorgehensweise auf, das Innere des Behandelnden zur Verfügung zu stellen und nicht in einer unbeweglichen Abstinenzauffassung stecken zu bleiben. Zur Diagnostik: Die Darstellung der Hauptperson entspricht nicht einer Asperger-Symptomatik, es ist eher eine  spätadoleszenten Identitätskrise bei frühkindlicher Bindungsstörung mit mathematischer Hochbegabung. 

„Good Will Hunting“ (1997) von Gus van Sant nach einem Drehbuch von Ben Affleck und Matt Damon ist zu finden z.B. bei Amazon Prime, ebenfalls empfehlen möchte ich „The Kings Speech“ (2010) von Tom Hooper, Colin Firth als englischer König und Geoffrey Rush als Therapeut. Yuval Hurari sprach im ZEIT- Podcast „Alles Gesagt“ sehr ausführlich zum Thema „What is the Meaning of Life?“ mit Christoph Amend und Jochen Wegner. 

Filme und Serien

„Spotlight“ – ein Film von Tom McCarthy

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©WebediaShowtimesFeed

Unter der Überschrift “Kirche ließ jahrelang Missbrauch durch Priester zu“ veröffentlichte die US-amerikanische Lokalzeitung „The Boston Globe“ 2002 die Ergebnisse des investigativen Rechercheteams „Spotlight“. Ausgehend von der Missbrauchsanklage gegen einen Priester, wurden Hunderte ähnlicher Fälle und deren Vertuschung durch die Institution Kirche aufgedeckt. 2003 erhielt das Team dafür den Pulitzerpreis, und die Arbeit war ein wichtiger Schritt im weltweiten Aufarbeitungsprozess dieser Vorgänge in der katholischen Kirche.

Nicht die Leiden der Opfer von Missbrauch durch katholische Priester stehen im Vordergrund des Films „Spotlight“ (2015) von Tom McCarthy, sondern die Recherche dieses Journalistenteams, wodurch die systematische Vertuschung von Missbrauch im Erzbistum Boston aufgedeckt wurde.

Oft hervorgehoben wurde die unaufgeregte Erzählweise des Films, der Verzicht auf Melodramatik und herkömmliche Spannungsschemata sowie die Realitätstreue. Aber er ist kein trockener Dokumentarfilm, er folgt einem inneren Aufbau und nimmt den Zuschauer emotional mit. Man sucht nach Helden, Feinden, Kämpfen und Siegen, denn damit könnte man sich dieses Thema aneignen. Anfangs findet man diese, aber bald verliert man das bekannte Heldenmuster wieder. Die Protagonisten sind Angestellte, Töchter, Familienväter, ehrgeizig, korrupt – und sie bleiben es auch. Ohne große Siege und Niederlagen.

Neben der Auflösung des Heldenschemas arbeitet der Film mit einer kontrastierenden Abwechslung zweier Annäherungen an die Missbrauchs-Ereignisse. Langweiliges Vorwärtsarbeiten, mühevolles Aktenwälzen und Zustandebringen von Interviews steht auf der einen Seite, andererseits gibt es die wie spitze Pfeile wirkenden affektiven Einbrüche des Themas in das Privatleben der Journalisten. Tiefe Berührung entsteht, wenn Sasha ihre geliebte und tief gläubige Großmutter nicht mehr in die Kirche begleiten kann und ihr später den publizierten Artikel vorlegt, obwohl er die Basis ihres Glaubens anzweifeln wird. Oder wenn Matt ein Behandlungszentrum für missbrauchende Priester in seiner Nachbarschaft entdeckt, an seinem Kühlschrank einen Warnzettel für seine Kinder anbringt, aber den Nachbarn wegen der lange geheimen journalistischen Arbeit zunächst nichts sagen darf. Oder wenn Michael endlich laut wird im einzigen impulsiven Ausbruch des Films und das Ergebnis der Recherche herausschreit: Alle haben es gedeckt! 

Was kann bei diesem Thema heilsam sein? Der neue Chefredakteur Marty Baron kommt nicht aus Boston, ist kein Katholik und kann vielleicht gerade dadurch die Untersuchung anstoßen und sein Team nach dem innewohnenden System fragen lassen. Im Laufe der Recherche schauen auch die Teammitglieder mit anderen Augen auf ihre eigenen Freunde und Bekannte, Nachbarn, Sportvereine, ja auf die ganze Stadt. Nicht alle diese Prozesse enden destruktiv, die Standpunkte verrücken sich, Perspektiven ändern sich – und trotz der entdramatisierenden Struktur des Films entstehen so Momente tiefer Verbindung, mit den Opfern und den Journalisten. Man kann etwas daraus mitnehmen: Blickwechsel fördern sowohl Annähern als auch das Gewinnen eines Standpunktes.

Empfehlen möchte ich hier auch die kurze Analyse in „Nerdwriter“, einem Video-Essay-Kanal auf Youtube. Evan Puschak, ein 32jähriger Netzfeuilletonist, analysiert in atemberaubenden siebeneinhalb Minuten Tom McCarthys „Spotlight“, mit einem kurzen historischen Abriss zum Bild des Journalisten im Film (1914 spielte Charlie Chaplin in seinem erstem Auftritt in einem Film einen Schwindler, der sich als Reporter ausgibt!), einem direkten Vergleich mit „All The Presidents Men“ (1976) von Alan J. Pakula und mit einer technischen Kurzanalyse der Machart des Films: Montage und Understatement. Letzteres meint hier u.a. die unaufdringliche und spannungsreduzierte Filmmusik, die schlammige Farbgebung („muded“), das zurückhaltende Setdesign und die funktionalen Kamerabewegungen – Entdramatisieren bei einem hochdramatischen und komplexen Thema. Vermittelt werde realistischerweise, dass journalistisches Arbeiten nüchtern, langweilig, schleppend, umständlich, voller Sackgassen und unspektakulär ist. Montage meint insbesondere die zweieinhalb Minuten dauernde Szene, in der das Durchsuchen von Unmengen an Listen und das Ausfüllen von Exceltabellen geschnitten wird mit kleinen, lebendigen Szenen der Reporter und der alltäglichen Orte, an denen sie dieser Tätigkeit nachgehen.

Puschak zitiert David Simon, einen Journalisten, Autor und Produzenten von Fernsehserien („The Wire“, „Treme“, „The Deuce“), der insbesondere mit seiner Serie „The Wire“ (2002 – 2008) einem breiteren Publikum die netzartigen Analogien und Verwicklungen zwischen Polizei, Drogenhändlern, Gewerkschaften, Immobilienspekulanten und Regierungsvertretern in Baltimore näherbrachte. Als Symbol für das Miteinander-Existieren von Gewalt und Geschäft, von Wirtschaft und Kriminalität verwendet er „The Game“, das Leben als Spiel, man kennt die Regeln oder auch nicht, man bricht sie, befragt sie, möchte sie ändern, aber letztlich entkommt man dem Spiel nicht. 

Unbedingt lesenswert ist auch ein Interview mit David Simon in „Vulture“, einer New Yorker Website zu Popkultur. Man erfährt, dass Tom McCarthy in der fünften Staffel von „The Wire“ einen Journalisten spielte, der eine komplette Mordserie erfand, eine Negativfigur und das Gegenteil des Spotlight-Rechercheteams. Und man denkt über redaktionelles Arbeiten in heutigen Zeiten nach, wenn Simon den ‚Goldstandard‘ im Journalismus definiert:

„The gold standard, as far as I’m concerned, is a bunch of people who go out and acquire information in a systemic way and then bring it back to a collective of people with real experience and real institutional memory, who have an understanding of the continuity and the context of issues, and can determine the news value and publish it accordingly. Or not publish it. The gatekeeper aspect of modern journalism, before it started to fall apart, had real value to me. Again, there’s a moment in this film where they don’t publish because they don’t have the story completely surrounded yet, and it’s a moment of great editorial integrity in the film. That’s the gold standard — having editors who truly edit and take their roles as gatekeepers seriously. The stuff that’s incomplete or the stuff that might be inaccurate or unfair gets a second look and maybe gets passed on. That’s all I’m saying.“

„Spotlight“ (2015) bekam zwei Oscars (bester Film, bestes Originaldrehbuch), man findet ihn z.B. auf Amazon hier, ein Interview mit Tom McCarthy im Deutschlandfunk hier.

Filme und Serien

„La Mala Educación“ – ein Film von Pedro Almodovar

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©️El Deseo 2004

Kann man das Thema Missbrauch von Kindern durch katholische Priester in einem Film angemessen darstellen? Kann ein Film Zuschauern dieses Phänomen näherbringen, in all seiner Brisanz? Ein durchaus gelungener Versuch dazu ist Pedro Almodovars „La Mala Educación“, der mit Hilfe von verschachtelten Zeitebenen und irritierender Auflösung von Identitäten und Erinnerungen die Wirkung von Missbrauch in der Kindheit filmisch verarbeitet.

Erzählt wird die Geschichte von Ignacio, der im Internat von seinem Lehrer, Pater Manolo, sexuell missbraucht wird. Einige Jahre später, transgender lebend und drogenabhängig, erpresst er den inzwischen verheirateten Pater, um seine Situation zu verändern. Er wird von ihm getötet, da dieser Ignacios jüngeren Bruder Juan begehrt, der wiederum Pater Manolo für den Mord an seinem Bruder benutzt hat. Juan wiederum sucht einige Jahre später den Regisseur Enrique auf, einen Freund Ignacios, der damals aus dem Internat geworfen wurde, obwohl Ignacio, begehrt von Pater Manolo, seinen Körper zur Verfügung stellte, damit Enrique bleiben konnte. Juan möchte Schauspieler werden und bietet Enrique – sich als Ignacio ausgebend – dessen Erzählung „Der Besuch“ an, die Ignacios Geschichte erzählt. Enrique dreht den Film mit ihm und geht eine sexuelle Beziehung mit ihm ein, wissend, das es Juan ist und nicht Ignacio, Juan wiederum weiß, dass Enrique seine wahre Identität kennt. Nach dem Dreh der letzten Szene (der Mord an Ignacio) erscheint der Pater und erzählt Enrique von dem gemeinsamen realen Mord an Ignacio, woraufhin dieser Juan aus seinem Leben wirft. 

Was sich wie eine verwickelte Kriminalgeschichte liest, ist im Film manchmal anrührend und betroffen machend, manchmal plakativ und farbenfroh, manchmal aber auch messerscharf sezierend, wenn es um die Auswirkungen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit geht. Der Film verweigert sich dem direkten Verständnis, zumal mit Doppelbesetzung gearbeitet wird, mit Film im Film und Erzählung im Film, mit Andeutungen, verschwimmenden Erinnerungen und schwelgenden, überzeichnet wirkenden Szenen. Allmählich erst bekommt man einen Faden in die Hand, man wendet sich den Schicksalen der Beteiligten zu, entwickelt Sympathien und Betroffenheiten, nur um dann wieder zu spüren, dass sich wenig intime Nähe zwischen den Beteiligten einstellt, dass Beziehungen dazu dienen, die eigenen Ziele und Begehrlichkeiten durchzusetzen und dass sich viele Szenen schön, aber leer anfühlen.

Dabei ist der emotionale Kern des Films weder die Schuldfrage, noch die Verurteilung der katholischen Kirche oder womöglich eine autobiographische Aufarbeitung. Es ist die berührende Frage: Wie überlebt man es, von einem Erwachsenen zum Objekt des Begehrens gemacht worden zu sein? Der Film zeigt die ganze Bandbreite der Toxizität von benutzenden Beziehungen: wie sich Ignacio abhängig macht von seinen körperlichen Bedingungen, wie er sich in der Sucht selbst zerstört, wie er sich durch das Aufschreiben seiner Geschichte befreien kann und doch wieder durch das eigene Erpressen in einen Teufelskreis gerät. Wie sich der jüngere Bruder Juan missbraucht fühlt von Ignacios Problemen, ihn aber auch imitiert (eine Vaterfigur scheint zu fehlen) und andere Menschen noch konsequenter als Ignacio für seine Zwecke benutzt, den Pater zum Mörder macht und Enrique zum Regisseur seines Erfolgsfilms. Wie der Pater unbeirrbar sein Beziehungsmodell von abhängiger und zugleich dominierender Lust auslebt, nicht gestoppt werden kann, in Gang gesetzte Veränderungen sich nicht aneignet und damit weiter auf seiner toxischen Linie bleibt. Wie sich Enrique als Regisseur zwar produktiv betätigt, aber aus der unschuldigen Schuld, dass sich Ignacio für ihn geopfert hat, nicht befreien kann. Und wie Enrique Juan benutzt für sein „Zerschneiden“, sein neugieriges Sezieren und filmisches Montieren von Menschen und Gefühlen, und ihn am Ende fallen läßt.

Aber auch Nicht-Toxisches spielt eine große Rolle. Das Kino bietet sich als ein Gegenentwurf zur Kirche an, es zieht einen in den Bann, bietet Versammlungsrituale, stellt menschliche Verwirrungen und Dramen dar, kurzum es ist ein magischer Ort – und für Enrique sogar ein schöpferischer. Dazu lädt viel Sorgfalt und schwelgerische Lust in der Ausstattung der einzelnen Szenen zum Genießen ein, und die sanfte, liebevoll-erotische Darstellung von Juan-Ignacio-Zahara lässt Respekt und Zuneigung spüren. Es ist als gebe der Film kleine atmosphärische und szenische Hinweise, wie man den kindlichen Missbrauch ohne manipulative oder tödlich endende Beziehungen überleben kann.

Erlebter Missbrauch setzt in der Seele ganz bestimmte Abwehrmechanismen in Gang, die auch im Film zu sehen sind: Erinnerungen verlieren sich, werden aufgeladen, überblendet, verdrängt und geleugnet. Zuschauend ist man irritiert, was Realität, Film, Erinnerung oder Phantasie ist, und erlebt so das, was womit viele Opfer zu kämpfen haben. Sowohl inhaltlich (manipulative Beziehungen) als auch formal (Dissoziationen, Leugnen, Derealisationsphänomene) bildet der Film Aspekte des Themas nach einschließlich der Möglichkeiten des Auswegs in Kreativität und Sanftheit.

Es sei kein autobiographischer Film, meint der Regisseur Almodovar, auch die Kritik an der katholischen Kirche sei kein zentrales Thema, und die Sexualität des Täters, ein Pater und Lehrer eines Knabeninternats, werde nicht verurteilt. Diese Haltung des Regisseurs merkt man dem Film an und sie macht den Zugang leichter. Die intensiven Bilder, die Almodovar findet, führen aber auch bei Kritikern zu bemerkenswert unreflektierten Äußerungen, wie bei Fritz Göttler, der 2010 in seiner Besprechung das Muster des unschuldigen Verführers (der Knabe Ignacio) bemüht, das endgültig nicht mehr herangezogen werden sollte zum Verstehen von Kindesmissbrauch.

„La Mala Educación“ (2004) findet man bei Amazon, Fritz Göttler problematische Besprechung In der Süddeutschen Zeitung, lesenswert ist auch der Beitrag zum Film im Blog „Talkingaboutsexualtrauma“ sowie Oliver Hüttmanns begeisterte und ausführliche Rezension von 2004 im Spiegel. Er räumt zwar dem Missbrauch nicht viel Raum ein, aber die vielen Ebenen des Films werden genau nachgezeichnet und mit der Metapher der „schwarzen Rose mit sinnlichem und verstörenden Duft“ treffend zusammengefasst.

Filme und Serien

„Shame“ – ein Film von Steve McQueen

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© See Saw Films 2011

Für seinen zweiten Spielfilm „Shame“ hat Steve McQueen, ein anerkannter britischer Künstler (u.a. Turner Prize), sexsüchtige Männer befragt und diese Erfahrung in eine dichte filmische Studie transformiert. Erzählt wird von einem von sexuellen Lüsten getriebenen Mann, Brandon, attraktiv und erfolgreich, aber ohne erfüllende Liebesbeziehung. Unter seinem kühlen Netz an Kontrollmaßnahmen wie Sauberkeit, Ordnung, Erfolg, manipulierendes Verhalten im Job, Fernhalten der Schwester und sexueller Befriedigung durch Geld/Macht spürt man im Laufe des Films immer mehr die dahinter liegende Verzweiflung. Parallel und kontrastierend wird gezeigt, wie seine Schwester Sissy bei gleichen familiären Bedingungen einen anderen Weg genommen hat. Aus ihrer ständig schwelenden Sehnsucht heraus geht sie schnell Bindungen ein, gerät dabei oft an Männer, die ihr schaden und kann sich nur sehr schwer und quälend daraus lösen. Sissy taucht im Leben ihres Bruders auf und erschüttert seine massive Abwehr gegen jegliche Offenheit und gegenseitige Abhängigkeit. Sie braucht ihn und zeigt dies sehr deutlich, er fühlt sich ihr im Inneren verbunden und möchte aus seinem Bewältigungssystem ausbrechen. Dies gelingt ihm zwar nicht, in seinem Scheitern aber entsteht die Chance, in einen tieferen Kontakt zu ihr und anderen Menschen zu treten.

Verdichtet zeigt die Szene in der Bar die unterschiedlichen Lebens- und Bewältigungweisen der Geschwister.. Als Sissy eine gedehnte und sensible Interpretation von „New York, New York“ singt, voller Vereinigungswünsche, kann man in Brandons Gesicht undeutlich eine Träne entdecken. Als sein Begleiter dies bemerkt und in Worte fasst, wehrt Brandon ab und bald darauf wirft er Sissy aus seiner Wohnung, als sie mit seinem Chef ins Bett geht. Man könnte meinen, seine Abwehr von Mitempfinden sei gelungen, aber bald darauf verabredet er sich mit einer Kollegin zu einem Restaurantbesuch, ein Versuch, sich einem Liebesobjekt auf eine andere Art zu nähern als bisher von ihm praktiziert.

In der anderen wichtigen Szene, nach einer obsessiven Reise durch nächtliches sexuelles Ausleben, kämpft Brandon sich zu einem Orgasmus. Es wird nur sein Gesicht gezeigt, auf dem sich Angst, Verzweiflung, Fragen und krampfhaftes Weglaufen-Wollen mischen. Die Augen blicken direkt in die Kamera und der Zuschauer schwankt zwischen Abscheu , Faszination und Mitfühlen. Als die Kamera sich langsam bewegt und Brandons Blick der Kamera folgt, entsteht ein kurzer Moment des Gesehenwerdens vom Protagonisten, ein Wechsel der Positionen, ein Durchbrechen der vierten Wand, wodurch der Schmerz auch für den Zuschauer körperlich erfahrbar wird. In der Folge rettet Brandons seine Schwester nach einem Suizidversuch in seiner Wohnung, eine Annäherung erscheint möglich.

Steve McQueens Film spielt oft auf andere Filme an und er wählt akzentuierte, manchmal manieriert wirkende Farbgestaltung. Das künstlerische Hauptthema ist der Kontrast zweier Ebenen: Lieben und Darüberreden, oder anders gesagt komplexe, destruktive Beziehungsmuster und gesprochene, Kommunikation ermöglichende Worte. Sexuelle Handlungen, Besessenheiten, Kontrolle, Zwang und Selbstverletzung werden auf untergründige Zusammenhänge hin zerlegt. Zutage tritt, dass man eigene und die Wünsche anderer nicht völlig kontrollieren kann, also die leidvolle Erfahrung des Verfehlens von Perfektion. Oder dass totale Unabhängigkeit auf dem Feld der menschlichen Beziehungen Verluste mit sich bringt, andersherum dass Nähe mit Abhängigkeit einhergeht. Zuschreibungen, wann etwas krank ist und wann nicht, werden hier hinterfragt und es gibt auch keine ätiologische Sichtweise, also keine Angebote, wie man aus der Kindheit heraus verstehen könnte, wie sich die beiden Hauptpersonen entwickelt haben. Aus der Lebensgeschichte gibt es nur zwei Informationen: New Jersey, und Sissys Satz: We’re not bad people, we just come from a bad place.

Das im Film behandelte Thema ist schwer und schambesetzt. Dies könnte ein Grund sein für die manchmal artifziell anmutende Gestaltung des Films. Es gibt Wortbilder wie in der Szene mit der Prostituierten, die den „hook“ ihres BHs nicht schließen kann, Brandon bietet Hilfe an, und sie sagt: „It’s just the hook“, oder auch Verwendung von Spiegelungen, Verschachteln von Zeitebenen, deutliche Kalt-Warm-Farbgestaltung, Zweidrittelung der Einstellungen und ein unscharfer Kinder-Animationsfilm im Hintergrund. Künstlich wirkende Formen können erlebtermaßen rettend sein, sie zerspringen nicht, lösen sich nicht auf und werden nicht allzu hässlich. Ebenso sind filmische Zitate Haltepunkte in dem seelischen Strudel zwischen obsessiver Machtausübung und Kontrollverlust: die Goldbergvariationen verweisen auf Hannibal Lecter, die nächtlichen Fenster auf Hitchcocks Film „The Rear Window“, Brandons Appartement auf „American Psycho“und sein nächtliches Joggen auf Dustin Hoffmann in „Marathon Man“.

Selbstreflektion bezüglich des Themas lässt sich ebenfalls finden, so wenn Sprechen und Worte explizit thematisiert werden. Brandon datet Marianne in einem Restaurant, der Kellner taucht auf und bespricht die Bestellung, die beiden aber müssen aber erst einmal ihre Worte finden. Begleitet wird dies von untergründiger Erregung, Zögern, Hoffen, Amüsiertheit und vorsichtigem Öffnen. Worte sind belanglos, der Kellner und das Paar sagen das, was man halt so sagt, darunter aber spürt man Spannungen, das Eigentliche, der Tanz des Annäherns. Ähnliches findet sich in dem Gespräch zwischen Brandon und Sissy, in dem er darüber spricht, wie sie Männerbeziehungen gestaltet und ihr aufzeigt, wie sie ihn manipulieren möchte, sie aber glaubhaft dagegen spricht. „Es wäre doch traurig, wenn du nichts mehr von mir hörst“, sagt sie, zugleich aber ist die Andeutung ihrer vollständigen Abwesenheit wieder ein Versuch ihn zu beeinflussen.

Zusammengefasst ist der Film eine intensive Fallstudie, klinisch gesehen geht es um abhängige/zwanghafte/emotional instabile Persönlichkeitsstrukturanteile, gesteigertes sexuelles Verlangen, Kontrolle/Abhängigkeit und Verwobenheit von Nähe und Abhängigkeit.

„Shame“, 2011, kann man bei Netflix streamen, bei Amazon findet man: „Marathon Man“, John Schlesinger 1976, „The Silence of the Lambs“, Jonathan Demme, 1991, „Rear Window“, Alfred Hitchcock, 1954, „American Psycho“, Mary Harron, 2000

Andreas Kilb in seiner Rezension hätte gerne mehr Erklärungen, Katja Nicodemus dagegen spürt die Verzweiflung.

Filme und Serien

„Under the Skin“ – ein Film von Jonathan Glazer

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© wildbunch 2014

Einige Kritiker meinten 2013, dieser Film könne ein Kultfilm werden, da er den Zuschauer mit mehr offenen Fragen zurücklasse als andere Filme. Ein solcher Effekt entsteht ja, wenn man beim Sehen des Films mehrere Geschichten entwickeln kann, in die das Geschehen hineinpasst, aber nie eine endgültige Bestätigung für eine Version erhält. Zusammen mit der durch spezielle filmische Mittel erreichten, traumhaft-surrealen Atmosphäre ist damit Jonathan Glazers Film recht gut charakterisiert.

In der Handlung geht es um eine unberührt wirkende, namenlose Frau (Scarlett Johannsen), die sich in einem Lieferwagen durch Randzonen einer Großstadt bewegt und Männern auf eine dokumentarisch-nüchterne Art beobachtet, wie sie sich bewegen, was sie sagen, wie sie mit ihr ins Gespräch kommen. Mit der Aussicht auf Sex lockt sie einige Männer in ein leerstehendes Haus, wo sie in einer schwarzen gestaltlosen Masse versinken, irgendwann ruckartig ihr Körperinneres verlieren und als tanzende Hauthülle dort verbleiben. Nach der Begegnung mit dem ersten Mann, den sie nach der Nacht wieder aus dem Haus läßt, verändert sich das Schema, die Frau begibt sich in die Welt hinaus und landet schließlich bei einem vorsichtigen und eher sanften Mann in dessen Haus. Nach einer Nacht mit ihm läuft sie in den Wald und wird nach einer versuchten Vergewaltigung von einem Waldarbeiter durch Verbrennen getötet.

Dies könnte eine Science-Fiction-Horror-Geschichte sein, denn die Frau hat die äußere Hülle einer menschlichen Frau verwendet und entpuppt sich am Ende als schwarzes Alien-Wesen. Aber die entsprechenden Filmmuster fehlen, es gibt kein Geschrei, keine entsprechende Musik, kein Erschrecken, Horror oder Blut. Die Straßenaufnahmen sind ungestellt, die Darsteller spielen entweder non-fiktional oder sie bewegen sich, wie die Hauptfigur und deren Helfer, maschinenhaft unbewegt durch das Geschehen, es gibt einige traumähnliche Sequenzen und der Filmsound ist eher experimentell.

Scarlett Johannsen spielt hier eine kühle und unempathische Frau, die zu Beginn dokumentarisch, manchmal leicht neugierig wahrnimmt, wie sich Menschen öffentlich bewegen und ihr gegenüber verhalten. In ihrem Haus nimmt sie den Männern, die mit ihr Sex wollen, das Innenleben und sie können nicht mehr in ihr eigenes Leben zurückkehren. Bei einem dieser Kontakte wird gezeigt, wie sie völlig unbeeindruckt ein schreiendes Kleinkind am Meer dem sicheren Tod überläßt. Versinnbildlicht wird dabei der aus manchen Störungsbildern bekannte innerseelische Zustand, dass es völlig fremd und unmöglich erscheint, sich in jemand anderes hinein zu versetzen, zu fühlen, was der andere fühlt oder wie das eigene Verhalten auf den anderen wirkt. Im Kontakt zu einer solchen Frau werden die Männer zu Hüllen ohne innere Regungen. Aber die Iris des menschlichen Auges als Metapher weist darauf hin, dass über das Sehen etwas ins Innere der Frau gelangt, sie lernt im Beobachten, durch Begegnungen, durch das Anfassen von Tieren und durch Blut auf ihrer Haut. Ein Wendepunkt ist das Zusammentreffen mit einem äußerlich stark entstellten jungen Mann, der noch nie eine Freundin hatte, also noch nie von einer Frau berührt wurde. Sie öffnet ihm nach der Nacht mit ihr die Tür des Hauses und er entkommt, eine Handlung, mit der ihr Schema sich zu ändern beginnt. Lieferwagen, Helfer, Haus läßt sie zurück und nähert sich einem Mann in einem Bus, der ihr fremde Beziehungsangebote macht: Essen, Trinken, Spazieren, Vorsicht und Fürsorge. Sie verbringen eine Nacht miteinander und als er in sie eindringen möchte, schaut sie sich neugierig verwundert ihre Vagina an – in ihrem Inneren scheint sich etwas zu bewegen.

Unberührbarkeit und die Unmöglichkeit sich in andere hinein zu versetzen werden in diesem Film vorgeführt und es deuten sich auch Wege an, wie eine Veränderung möglich ist. Allerdings zeigt das Ende der Geschichte, rückwärts betrachtet, was der Gewinn daran sein kann, unberührt durch die Welt zu gehen: Man beherrscht andere Menschen, da man selbst von diesen nicht verletzt werden kann, und manchmal kann man sich sogar das Innenleben der anderen aneignen. Beginnt man diesen Mechanismus zu befragen, ja sogar zu verändern, so fühlt man sich hilflos, man wird überwältigt, verfolgt. Die anderen können das eigene, fremde Innere sehen und mit völligem Unverständnis, Abwehr und Zerstörung reagieren.

Die passenden klinischen Begriffe sind Mentalisierungsfähigkeit, Affektspiegelung oder Alexithymie, aber sie sind keinesfalls deckungsgleich mit dem, was der Film zeigt. Besser als in jedem Lehrbuch allerdings wird hier spürbar gemacht, was ein Mangel an seelischem Innenleben bedeutet und wie schwer es ist, daran etwas zu verändern.

Under the Skin, GB 2013, Regie Jonathan Glazer kann man bei Amazon Prime leihen oder hier als DVD gebraucht kaufen, ein Interview mit dem Regisseur findet man hier.