Unter der Überschrift “Kirche ließ jahrelang Missbrauch durch Priester zu“ veröffentlichte die US-amerikanische Lokalzeitung „The Boston Globe“ 2002 die Ergebnisse des investigativen Rechercheteams „Spotlight“. Ausgehend von der Missbrauchsanklage gegen einen Priester, wurden Hunderte ähnlicher Fälle und deren Vertuschung durch die Institution Kirche aufgedeckt. 2003 erhielt das Team dafür den Pulitzerpreis, und die Arbeit war ein wichtiger Schritt im weltweiten Aufarbeitungsprozess dieser Vorgänge in der katholischen Kirche.
Nicht die Leiden der Opfer von Missbrauch durch katholische Priester stehen im Vordergrund des Films „Spotlight“ (2015) von Tom McCarthy, sondern die Recherche dieses Journalistenteams, wodurch die systematische Vertuschung von Missbrauch im Erzbistum Boston aufgedeckt wurde.
Oft hervorgehoben wurde die unaufgeregte Erzählweise des Films, der Verzicht auf Melodramatik und herkömmliche Spannungsschemata sowie die Realitätstreue. Aber er ist kein trockener Dokumentarfilm, er folgt einem inneren Aufbau und nimmt den Zuschauer emotional mit. Man sucht nach Helden, Feinden, Kämpfen und Siegen, denn damit könnte man sich dieses Thema aneignen. Anfangs findet man diese, aber bald verliert man das bekannte Heldenmuster wieder. Die Protagonisten sind Angestellte, Töchter, Familienväter, ehrgeizig, korrupt – und sie bleiben es auch. Ohne große Siege und Niederlagen.
Neben der Auflösung des Heldenschemas arbeitet der Film mit einer kontrastierenden Abwechslung zweier Annäherungen an die Missbrauchs-Ereignisse. Langweiliges Vorwärtsarbeiten, mühevolles Aktenwälzen und Zustandebringen von Interviews steht auf der einen Seite, andererseits gibt es die wie spitze Pfeile wirkenden affektiven Einbrüche des Themas in das Privatleben der Journalisten. Tiefe Berührung entsteht, wenn Sasha ihre geliebte und tief gläubige Großmutter nicht mehr in die Kirche begleiten kann und ihr später den publizierten Artikel vorlegt, obwohl er die Basis ihres Glaubens anzweifeln wird. Oder wenn Matt ein Behandlungszentrum für missbrauchende Priester in seiner Nachbarschaft entdeckt, an seinem Kühlschrank einen Warnzettel für seine Kinder anbringt, aber den Nachbarn wegen der lange geheimen journalistischen Arbeit zunächst nichts sagen darf. Oder wenn Michael endlich laut wird im einzigen impulsiven Ausbruch des Films und das Ergebnis der Recherche herausschreit: Alle haben es gedeckt!
Was kann bei diesem Thema heilsam sein? Der neue Chefredakteur Marty Baron kommt nicht aus Boston, ist kein Katholik und kann vielleicht gerade dadurch die Untersuchung anstoßen und sein Team nach dem innewohnenden System fragen lassen. Im Laufe der Recherche schauen auch die Teammitglieder mit anderen Augen auf ihre eigenen Freunde und Bekannte, Nachbarn, Sportvereine, ja auf die ganze Stadt. Nicht alle diese Prozesse enden destruktiv, die Standpunkte verrücken sich, Perspektiven ändern sich – und trotz der entdramatisierenden Struktur des Films entstehen so Momente tiefer Verbindung, mit den Opfern und den Journalisten. Man kann etwas daraus mitnehmen: Blickwechsel fördern sowohl Annähern als auch das Gewinnen eines Standpunktes.
Empfehlen möchte ich hier auch die kurze Analyse in „Nerdwriter“, einem Video-Essay-Kanal auf Youtube. Evan Puschak, ein 32jähriger Netzfeuilletonist, analysiert in atemberaubenden siebeneinhalb Minuten Tom McCarthys „Spotlight“, mit einem kurzen historischen Abriss zum Bild des Journalisten im Film (1914 spielte Charlie Chaplin in seinem erstem Auftritt in einem Film einen Schwindler, der sich als Reporter ausgibt!), einem direkten Vergleich mit „All The Presidents Men“ (1976) von Alan J. Pakula und mit einer technischen Kurzanalyse der Machart des Films: Montage und Understatement. Letzteres meint hier u.a. die unaufdringliche und spannungsreduzierte Filmmusik, die schlammige Farbgebung („muded“), das zurückhaltende Setdesign und die funktionalen Kamerabewegungen – Entdramatisieren bei einem hochdramatischen und komplexen Thema. Vermittelt werde realistischerweise, dass journalistisches Arbeiten nüchtern, langweilig, schleppend, umständlich, voller Sackgassen und unspektakulär ist. Montage meint insbesondere die zweieinhalb Minuten dauernde Szene, in der das Durchsuchen von Unmengen an Listen und das Ausfüllen von Exceltabellen geschnitten wird mit kleinen, lebendigen Szenen der Reporter und der alltäglichen Orte, an denen sie dieser Tätigkeit nachgehen.
Puschak zitiert David Simon, einen Journalisten, Autor und Produzenten von Fernsehserien („The Wire“, „Treme“, „The Deuce“), der insbesondere mit seiner Serie „The Wire“ (2002 – 2008) einem breiteren Publikum die netzartigen Analogien und Verwicklungen zwischen Polizei, Drogenhändlern, Gewerkschaften, Immobilienspekulanten und Regierungsvertretern in Baltimore näherbrachte. Als Symbol für das Miteinander-Existieren von Gewalt und Geschäft, von Wirtschaft und Kriminalität verwendet er „The Game“, das Leben als Spiel, man kennt die Regeln oder auch nicht, man bricht sie, befragt sie, möchte sie ändern, aber letztlich entkommt man dem Spiel nicht.
Unbedingt lesenswert ist auch ein Interview mit David Simon in „Vulture“, einer New Yorker Website zu Popkultur. Man erfährt, dass Tom McCarthy in der fünften Staffel von „The Wire“ einen Journalisten spielte, der eine komplette Mordserie erfand, eine Negativfigur und das Gegenteil des Spotlight-Rechercheteams. Und man denkt über redaktionelles Arbeiten in heutigen Zeiten nach, wenn Simon den ‚Goldstandard‘ im Journalismus definiert:
„The gold standard, as far as I’m concerned, is a bunch of people who go out and acquire information in a systemic way and then bring it back to a collective of people with real experience and real institutional memory, who have an understanding of the continuity and the context of issues, and can determine the news value and publish it accordingly. Or not publish it. The gatekeeper aspect of modern journalism, before it started to fall apart, had real value to me. Again, there’s a moment in this film where they don’t publish because they don’t have the story completely surrounded yet, and it’s a moment of great editorial integrity in the film. That’s the gold standard — having editors who truly edit and take their roles as gatekeepers seriously. The stuff that’s incomplete or the stuff that might be inaccurate or unfair gets a second look and maybe gets passed on. That’s all I’m saying.“
„Spotlight“ (2015) bekam zwei Oscars (bester Film, bestes Originaldrehbuch), man findet ihn z.B. auf Amazon hier, ein Interview mit Tom McCarthy im Deutschlandfunk hier.