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„Mein Fall“ – ein Buch von Josef Haslinger

Jeder, der sich mit Missbrauch beschäftigt, weiß, dass diese seelische Verletzung eine Vielzahl an hilflosen oder ungenügenden Bearbeitungsweisen in Gang setzt, um damit weiterleben zu können. Über das ‚Danach‘ zu sprechen ist oft genauso wenig möglich, wie die missbräuchlichen Erfahrungen selbst zu thematisieren. Die Opfer finden kaum Worte und Wege sich zu äußern, außer in Symptomen und Persönlichkeitsveränderungen. Die Täter sprechen gar nicht.

Umso interessanter erschien es mir, wenn ein Schriftsteller seine Missbrauchserfahrungen in einem katholischen Knabenstift der sechziger Jahre in Buchform veröffentlicht. „Mein Fall“ von Josef Haslinger ist ein wichtiges und auch viel besprochenes Buch, das Diskussionen auslöste. Der Autor hatte seine Kindheitserfahrungen in dem Internat schon mehrmals literarisch verarbeitet und in Zeitungsartikeln Stellung bezogen, hatte dabei aber im Sinne der Täter argumentiert. Mit Anfang 60 stellt er sich nun seiner Vergangenheit und arbeitet dabei zugleich auf, wie er im Lauf der Jahrzehnte mit dem Missbrauch umgegangen ist. Man kann dem Autor beim sprachlichen Reflektieren über das eigene Leben zuschauen und man erkennt, wie Missbrauchserfahrungen ein Leben lang weiterwirken und sich dabei jeder einfachen Verleugnung oder Verdrängung widersetzen. Haslinger hatte zunächst alles Erlebte vergessen, nachdem der missbrauchende Pater das Internat verlassen musste. Er beschreibt, wie er selbst jüngeren Schülern gegenüber gewalttätig wurde, wie er sich später in der gesellschaftlichen Diskussion am Verharmlosen beteiligte und wie er rationalisierend dem Täterschutz diente. Wie er den Opferstatus zu vermeiden versuchte, indem er zunächst nicht offiziell aussagte. Wie er Erinnerungen selektierte, literarisierend Spannungen abwehrte und sich insgesamt zu einem „Gefallsohn“ entwickelte, dem es oft schwerfiel, entschieden aufzutreten und anderen damit eventuell Schmerzen zuzufügen, da „Tätersein“ im allgemeinsten Sinne für ihn mit Schuld belegt war. Letztendlich war ihm das Schreiben dieses Buches erst möglich, als der Täter verstorben war.

Das Buch ist eine Zergliederung der bei diesem Thema zwangsläufig auftretenden Täter-Opfer-Zuschreibung, so als habe Haslinger gespürt, dass er darin gefangen war und ist und zugleich sich in schreibender Weise davon lösen möchte. Seine Eltern wollten das Beste für ihn, indem sie ihn in das Internat schickten, aber sie haben nichts bemerkt, denn in ihrer Welt existieren keine missbrauchenden Pater. Selbst nichts über die Vorkommnisse zu sagen hatte für Haslinger lange den Sinn, den Pater nicht bloßzustellen, da er damit selbst zum Täter werden könnte. Zum Opfersein zu stehen bedeutet einen Verlust von Autonomie, man fühlt sich hilflos, beschämt, klein, entwürdigt, ent-individualisiert, also wird es abgewehrt. Aber auch eigene Positionen in Konflikten entschieden zu vertreten und damit andere zu verletzen, ist belastet, als würde man damit zum Täter. Und was oft der schwerste Aspekt ist: Der missbrauchende Pater war freundlich und verständnisvoll in einer gewaltpädagogischen Umgebung, Nähe zu ihm aufzubauen war unumgänglich. In einem zufälligen Zusammentreffen im Erwachsenenalter, beide gehen zufällig in einem Tagungszentrum aneinander vorbei, wird die Täter-Oper-Beziehung verdichtet beschrieben (S.33):

„Als er da auf mich zukam, sagte ich mir innerlich, hoffentlich erkennt er mich nicht. Als er mich aber dann wirklich nicht erkannte, war ich getroffen. Wie konnte er mich vergessen haben?“

Haslinger schreibt Literatur und erforscht Literatur, daher ist das Buch in seinen Formen vielfältig und erleichtert so die Annäherung an das Thema. Man kann ihn beim Faktensammeln begleiten, alles ist sauber recherchiert und oft sachlich dargestellt. Er legt seine inneren Diskussionen offen, wie er lange das Thema zu umgehen versuchte. Sehr einprägsam und ehrlich ist seine Sprache, wenn er das demütigende, mehrmalige Erzählen seiner Erlebnisse bei offiziellen Stellen beschreibt. Auch psychologisches Analysieren kommt vor, wenn er das autoritäre System zergliedert oder sein eigenes Schlagen jüngerer Schüler als Identifikation mit dem Aggressor beschreibt – und manchmal liest sich das Buch auch wie eine dramatische Kriminalerzählung. Schließlich zeigt Haslinger anhand seiner Beschäftigung mit Fotografien aus der Vergangenheit auf, wie undeutlich und auch fragwürdig Erinnerungen sein können.

Haslinger leistet einen lesenswerten Beitrag zu einem wichtigen und schweren Thema, Zugangshürden können damit für Leser überwunden werden, aber auch Fachleute ziehen Gewinn, denn selten wird so sprachlich versiert darüber geschrieben. Das Buch ist im Januar 2020 im S.-Fischer Verlag erschienen. Viele Rezensionen großer Zeitungen sind noch hinter der Paywall, aber es gibt ein Interview mit Josef Haslinger im Deutschlandfunk, lesenswert ist auch diese Besprechung im Blog „Talkingaboutsexualtrauma“ 2019.

Abbildung Wikimedia Commons