Der Blick aus dem Fenster der eigenen Psychotherapiepraxis führt mich oft in die Zeitgeschichte, denn die Menschen, die zu mir kommen, leben unter politischen, kulturellen oder religiösen Bedingungen. Thomas Bauer ist Islamist, Exzellenzwissenschaftler und Preisträger des ersten deutschen Sachbuchpreises in den Geisteswissenschaften. Sein Essay zur Ambiguität im Sinne von Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit in der heutigen Zeit ist spannnend, da sein Wissen um die Geschichte des Islam einfließt in allgemeine Betrachtungen zur aktuellen deutschen „Mentalität“. Seine Grundthese: derzeit herrsche eine Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit vor, die zu vielen der aktuellen gesellschaftlichen Probleme beitrage.
Zum Thema: Else Frenkel-Brunswik (1908 – 1958), eine deutsch-amerikanische Psychologin forschte als erste zum Persönlichkeitsmerkmal „Ambiguitätstoleranz“, das insbesondere bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Entstehung des Faschismus in Deutschland herausgearbeitet wurde. Wie weit kann die Mehrdeutigkeit eines Phänomens ausgehalten werden? Wie wird damit umgegangen? Auf welchem Hintergrund entsteht ein Druck zur Eindeutigkeit von Weltauslegung? Bauer überträgt in seinem Essay diese Fragen auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und berührt dabei die Geschichte des Islam, der katholischen Kirche, den heutigen Umgang mit Sexualität, Popkultur, das Leben eines deutschen Rassentheoretikers und vieles mehr.
Man braucht etwas Zeit, um sich in die Denk- und Argumentationslogik des Buches einzulesen, denn Bauer ist kein empirischer Sozialforscher oder Psychologe, obwohl er auf Erkenntnisse dieser Bereiche zurückgreift. Eher geht es um „Mentalitätsgeschichte“, und das wird höchst spannend, wenn anhand der vielen Begriffsklärungen große Linien gezogen werden, aber anschauliche Beispiele nicht zu kurz kommen. Neu könnte es für Leser z.B. sein, dass islamisch geprägte Kulturen lange Zeit sehr ambiguitätstolerant waren. In den letzten 1000 Jahren vor dem 20. Jahrhundert gab es dort quasi keine Steinigungen von Ehebrechern, homosexuelle Aktivitäten wurden ausgeführt, beschrieben, literarisch verarbeitet, aber Menschen wurden nicht eindeutig in homosexuell oder heterosexuell klassifiziert. Auch wurden dauerhaft neue Auslegungen des Koran produziert, eine einzig Wahrheit aber gab es dabei nicht, und als bei einer sehr großen Anzahl der Auslegungen eine Schwerpunktsetzung unumgänglich schien, wurde eine überschaubare Anzahl als bedeutsam gewertet, die anderen aber weiter aufbewahrt, gelehrt und ergänzt.
Vergleichbares findet sich auch in der katholischen Kirche, die im 17. und 18. Jahrhundert ihren Missionaren in Persien eine höchst schwierige Frage beantworten musste. Die armenischen Christen, die den Papst als Oberhaupt angenommen hatten und die man in der Missionierung dringend benötigte, praktizierten dennoch die Kinderehe. Rom schrieb: Nihil esse respondendum – Es soll nicht geantwortet werden. Dieser Beschluss, der beschließt, nichts zu beschließen, ist ein Beispiel für die Ambiguitätstoleranz der katholischen Kirche, die viel zu ihrem Fortbestand beigetragen habe.
In beiden Religionen setzte mit dem Beginn der Moderne und sich steigernd mit der Globalisierung ein Verlust der Ambiguitätstoleranz ein, der zu der nicht neuen, aber gut belegten These führt, dass die Tendenz zur Vereindeutigung es möglich macht, sich vom anderen, Fremden abzuheben.
Zum Nachdenken bringt der Aspekt, dass man bei praktizierter Religiosität (im Gegensatz zu agnostischer Gleichgültigkeit oder Fundamentalismus) Ambiguität trainieren kann, denn Transzendenz anzuerkennen führt zwangsläufig in mehrdeutiges Erleben. Ein Göttliches ist nicht kategorisierbar, anfassbar oder überindividuell zu bestimmen, ebenso wie die Kommunikation mit dem Göttlichen in Form von heiligen Texten nie eindeutig sein kann.
Wenig verwundert hat mich, dass auch der Bereich der Kunst für Bauer zum Thema wird, allerdings mit z.T. erstaunlichen Resultaten. Es gebe gerade in der Moderne eine Tendenz zur Reinheit, Wahrheit und Geschichtslosigkeit, die Begleiterscheinungen der Ambiguitätsintoleranz, Beispiele dafür seien die Zwölftonmusik und die serielle Musik, der Abstrakte Expressionismus oder die „Ästhetik der Glätte“ eines Jeff Koons. Ist aber abstrakte Kunst nicht gerade offen und für verschiedene Auslegungen geeignet? Bauer argumentiert, bedeutungs-, geschichtlos- und konventionslos lade Kunst nicht zur Mehrdeutigkeit ein, nicht zum Changieren im Einlassen auf verschiedene Ebenen und einen Mittelweg finden, mit ungedeuteten Resten.
Man wird bei der Lektüre zum inneren Diskutieren aufgefordert, man reflektiert über den Begriff der Authentizität, über den Markt, in dem der Wert einer Sache eindeutig festlegt werden muss, damit Handel getrieben werden kann, über den politischen Begriff der Identität und über den Maschinenmenschen. Und man kann sich innerlich positionieren, denn man wird nicht in eine Argumentation oder ein Denkgebäude hinein gezwungen, sondern auf eine eigentümlich altmodische Art und Weise zum Nachdenken angeregt. Und: ist der psychotherapeutische Prozess nicht auch ein ständiges Arbeiten an der Auflösung der unumstößlichen, aber selbstbehindernden Vereindeutigungen unserer Patienten, mit dem Ziel, den Wiederholungszwängen mehrdeutige Auslegungen von Wirklichkeit gegenüberzustellen, ja für diese zu werben?
Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, reclam 2018, 97 Seiten
Hier ein Interview mit dem Autor im Tagesspiegel