Bücher

„Serpentinen“ – ein Roman von Bov Bjerg

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©️Gaga Nielsen

Begonnen habe ich mit meinem Empfehlungsblog, da ich einigen Podcasts zum Thema Psychotherapie begegnet bin und diese als Abwechslung zu Fachliteratur interessierten KollegInnen ans Herz legen wollte. Inzwischen frage ich bei vielem, was ich lese und anschaue, ob man dabei auch etwas Spezielles über die Seele erfahren kann. Unter Pandemiebedingungen habe ich einige Romane gelesen und auch dort findet sich etwas für diesen Blog. 

In dem hier empfohlenen Buch geht es um das schwierige und bedrückende Thema der transgenerationalen Weitergabe von Traumata, und neben Inhaltlichem transportiert gerade seine sprachlich experimentelle Fiktionsform viel „Wissen“ darüber. Bov Bjerg fragmentiert, wechselt die Zeitebenen, den Sprachstil, deutet an und führt die Leserin in die Irre und genau damit vermittelt er, wie innere Zerrissenheit und Zerfall eines Menschen aus einem beeinträchtigten Lebensweg entstehen.

Erzählt wird die Reise eines mittelalten Vaters mit seinem ca. achtjährigen Sohn aus Berlin in seine süddeutsche Heimat, zurück zum Anfang seines Lebens und zu den Wurzeln seiner Familie. Es könnte sein, dass sie fliehen, und dass der Junge in Gefahr ist, aber dies bleibt lange ungewiss. In drei Generationen dieser Familie haben die Männer sich das Leben genommen, und der Reisende überlegt, sich und seinem Sohn die von ihm vermuteten Auswirkungen zu ersparen, indem er ihn umbringt. Parallel dazu beschäftigt er sich mit seiner Vergangenheit, man erfährt vom Alkoholismus des Vaters, der Gewalt in der Familie und der Unfähigkeit der Eltern, ihn zu verstehen. In einer Nacht beginnt der Vater, den Sohn mit einem Kissen zu ersticken, bricht dies aber ab. Kurz danach fällt der Junge nach einem Streit von einem Baum mit einem Strick um den Hals, zeitgleich verdichtet sich der Eindruck, der Vater könne in eine psychotische Phase geraten sein. Nach dem Unfall des Sohnes wird der Vater festgenommen, aber nach Klärung durch die Mutter des Jungen setzen sie ihre Reise fort, indem sie zurück in die Großstadt reisen.

Schon mit den ersten Sätzen eröffnet der Roman, dass es um die Weitergabe von Krankheiten, Problemen und Charakterzügen innerhalb einer Familie geht. Wie kommt man zurecht mit den Lasten der Vor-Väter, mit den Selbstmorden von Vater, Großvater, auch schon Urgroßvater, den Vertreibungen, dem Rassismus, der Sucht, der Härte und den Abspaltungen und Verdrängungen in der Familiengeschichte? Sicher aber kann man sich dieses Themas nicht immer sein, denn die Erzählweise zerteilt das Geschehen und damit auch das Erleben der Leserin. Der Roman besteht aus kurzen Kapiteln und angerissenen Szenen und es gibt keine abgerundeten Erzählstränge in vertrauten sprachlichen Mustern. In den angebotenen Fragmenten ist es immer wieder schwierig, einen Faden zu finden, aber  der Roman bietet mehrere Einstiegspunkte, durch die man in einen Sog geraten kann. Gleichzeitig wird beim Lesen immer mitverhandelt, ob man aushält, was auf einen zukommen kann, oder ob es zu schwer wird und man das Buch weglegt. Damit wird im Leseprozess exakt das verdoppelt, was die Hauptfigur in ihrer Lebensgeschichte durchgemacht hat, nämlich sich ständig zu fragen, ob man so weiterleben kann.

Die Schwere der Lebenssituation wird in der Geschichte durch die Andeutungen spürbar, der Vater könne auf der Flucht vor etwas sein, da er nicht gefunden werden möchte. Bedrückend beschrieben werden auch die Pläne, den Sohn zu töten, bis hin zu einem Versuch, ihn schlafend zu ersticken. Psychotisches tritt in Form von Romanfiguren auf: die „große Schwärze befiehlt“, die „GROSSE BRILLE spricht“, und Bier wird schon am frühen Morgen getrunken und erbrochen. Die Polizei als äußere Instanz beharrt darauf, dass der vorher ausführlich als Retter im Familienchaos beschriebene Bruder nicht existiert und dies könnte ein Hinweis auf psychotische Symptome sein.

Ein kritischer und schwer zu ertragender Wendepunkt im Roman ist die Szene, wenn der Junge schläft und der Vater ihm das Kissen auf das Gesicht legt, um ihn zu töten und ihm damit sein eigenes Schicksal zu ersparen. Aber erzählt wird dabei auch von der inneren Entscheidungsfreiheit des Vaters, ob er ihn tötet oder nicht. „Wenn er davon erwachte, würde ich es nicht tun“ oder „Nahm er <der Schwarze Gott> den Befehl zurück, ließ ich ihn am Leben.“ Der Text läßt das Ergebnis an der Stelle zunächst offen und es werden Episoden zur Beziehung der Hauptfigur zu seinem eigenen Vater eingeschoben. Am Ende kommt die Hauptfigur, vielleicht mit Hilfe der Erinnerungen, zu einer überraschenden Erkenntnis. Die Tatsache, dass der Vater nicht mehr leben wollte, rührte nicht daher, dass er als Sohn nicht genügte, sondern im Gegenteil, er als Sohn war für ihn völlig ohne Bedeutung. Dies ist erleichternd und gleichzeitig erschütternd: „Ich war für den Vater: NICHTS“. Der nächste Satz aber löst die Spannung auf, ob der Junge vom Vater erstickt wird: “Der Junge war für mich: ALLES“, worauf der Vater zärtlich werden kann und Kissen wieder unter den Kopf des Kindes gelangt. 

Der Roman arbeitet an seinem Thema mit verschiedenen Mitteln, so auch damit, dass Bedeutungszuschreibungen mehrdeutig bleiben. Am Ende weiß man nicht, ob die Partnerin der Hauptfigur ihn versteht, ihm traut, ihn trägt, oder ob ihre Beziehung beendet ist und er vor ihr verheimlicht, was los ist. Und die erfundenen Figuren wie die große Schwärze, die GROSSE BRILLE und der Bruder können literarische Bilder des Erzählers sein, um das Innere der Figur verständlich zu machen, oder aber sie sind Hinweise auf eine psychotische Phase. Häufig wird Zeit vorwärts und rückwärts geschildert. Die Reise der beiden geschieht in langsamen Anschnitten und mehreren Orten der süddeutschen Heimat. Die Erkenntnisse über die Familiengeschichte erscheinen sprunghaft, in Fragmenten die Erlebnisse in der Kindheit, und in kleinen Begegnungen wie Zählen und Vorlesen das Annähern zwischen Vater und Sohn.

Dass in literarischen Werken mit Bildern gearbeitet wird, ist eher trivial, sei aber hier eigens erwähnt, da in der Psychotherapie davon gelernt werden könnte. Metaphern im psychotherapeutischen Prozess werden von vielen theoretischen Konzepten her als wirksam angesehen und können explizit gefördert werden, sie transportieren einen unbewussten Mehrwert und liefern anschauliche und transportable Hilfsmittel. Als Beispiel begleitete mich die Metapher des verlorenen Sohnes aus Bjergs Roman noch lange nach der Lektüre, so als habe sie ein wichtiges Thema veranschaulicht. Beschäftigt hat mich dabei die Frage, ob und wieso verlorene Menschen nicht weniger geliebt werden als treu unterstützende. Und dass auch Väter verloren gehen können, und ob man beim Wiederfinden der Väter auch mal fröhlich sein darf. Der Hauptfigur unterläuft die Fehlleistung, der verlorene Vater komme nach Hause und werde aufgenommen, sein Sohn verbessert ihn: der verlorene Sohn. Sowohl der Ich-Erzähler als auch sein Vater und dessen Vater können nach dem Verlorengehen wieder aufgenommen werden. Oder nicht? 

Es gäbe noch viel zu ergänzen, die punktgenaue Beschreibung sowohl depressiver Stimmungen als auch leidvoller Erosionen von Beziehungen unter der Last einer seelischen Erkrankung, oder die in dem Beruf der Hauptperson mitgeführte Frage nach der Analyse der Verhältnisse und ob Klugheit, Wissenschaft und Intellektuelle hilfreich sind. Und auch damit wäre noch nicht alles gesagt, aber dazu sei die eigene Lektüre empfohlen.

„Serpentinen“ von Bov Bjerg ist erschienen im Claassen Verlag Januar 2020 und steht derzeit auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Carsten Otte rezensiert in ZEIT ONLINE differenziert und begeistert und Wolfgang Tischer führt im Podcast von literaturcafe.de ein ausführliches und lebensnahes Gespräch mit dem Autor.

Ausstellungen

„Schattenreich“ – eine Ausstellung von Simon Schubert im Museum Morsbroich

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Schattenreich (Sitzungsraum) 2019, © Simon Schubert

Zweimal habe ich die Ausstellung besucht, und jedesmal ließ mich die Frage nicht los, wie es den Schatten in Simon Schuberts Räumen ergeht, denn das Leben wird ihnen nicht leicht gemacht. Oft wird das Licht so manipuliert, gesteigert oder ausgeblendet, dass die Schatten mit viel Aufwand gesucht werden müssen. Jedenfalls denkt man das – bis man bemerkt, dass die Schatten im Grunde überall beteiligt sind, schmal, zart, graphitschwarz, angedeutet oder auch übermächtig.

Das Spiel von Licht und Schatten ist eine thematische Linie, entlang derer man die Ausstellung im Museum Morsbroich begehen kann. Ständig präsent sind die Faltungen in weißem Papier, die den zweidimensionalen Bildträger zu einem perspektivischen Raumgestalter werden lassen. Alle Wände der Graphiketage des Musuems Morsbroich sind damit verkleidet, sie reflektieren das künstliche Licht und bieten doch Ausfluchten daraus, da die Faltungen Räume vorspielen. Es sind schön anzusehende Perspektive-Tricks, denen man gerne folgt, da sich bald in den Räumen selbst eine schwer greifbare Beklemmung einstellt. Man möchte ihr entgehen, indem man nach einer Ordnung sucht, also z.B. in welcher Richtung man die Räume am sinnvollsten durchwandert. Oder indem man Spiegel-Spiele mit sich selbst oder anderen spielt, und mit gelöst-heiterer Stimmung dem Unheimlichen entgehen möchte. Aber das Licht mit seinem Gegenspieler „Nicht-Licht“ bleibt bestimmend für den Besuch der Ausstellung und man kann ihm nicht entkommen, so sehr man es auch versucht.

Eine andere Lesart des Schattenreiches wird durch „Dr. R.“ vorgegeben, eine mit Arztkittel und zuhörender Sitzhaltung versehene Figur mit Plüschhasenkopf. Durch ihn wird man auf die Fährte gesetzt, man betrete nun eine verkehrte Welt, wie bei Alices Spiegelwelt durch das Kaninchenloch (Lewis Carroll) oder wie bei Sigmund Freud die Welt des Unbewussten durch die Traumdeutung. Rahmen umschließen mehrere unregelmäßig gehängte Papierarbeiten oder sie sind winklig ineinander verdreht ohne ein Werk zu umfassen, ein Haus wird gewendet und auf der Giebelseite wieder aufgestellt, Treppenhäuser werden perspektivisch verzerrt gezeichnet. In einem dunklen Spiegelkabinett sieht man nicht sich selbst, wie man es aus der Szenerie erwarten könnte, sondern im Spiegel tauchen weitere Ausstellungsbesucher auf. Die ebenfalls vor dem Spiegel stehende gesichtslose Frau wirft die Frage auf, ob man sich selbst überhaupt im Spiegel erkennen kann, oder sind wir uns nicht auch immer etwas fremd?

Ausgehend von dem als Schlafzimmer erkennbaren Raum der Ausstellung findet man ein weiteres Thema: Was nimmt man wahr in einem extrem hellen Raum? Auf eine glatte Matratze sind Falten aufgebracht, die andeuten, dass das Bett benutzt worden ist und aus dem Nachbarzimmer schaut ein Mädchen auf das Bett, genauer gesagt, sie steht kurz vor der Türschwelle. Man nimmt ihre Blickrichtung zum Bett wahr, aber sie hat kein Gesicht, sondern nur zwei Rückseiten. Sie kann sich nicht abwenden von dem, was sie dort sieht oder auch erinnert. Besucher sind oft mit der genauen Betrachtung der Figur beschäftigt, sie fragen sich, ob sie einen Daumen hat oder nicht, ob das Haar echt ist und ob die Kleidung passt. All dies sind kognitive Verstehensversuche, die ablenken können vom dem Eindruck, es könnte dort etwas Beunruhigendes geschehen sein. Das Schlafzimmer verweist in seiner surrealen Lichtsituation auch auf künstlerische Experimente mit Zeit- und Raumlosigkeit, wie sie zum Beispiel in den letzten Sequenzen von Kubricks „2001: A Space Odyssey“ (1968) meisterhaft vorgeführt wurden. Auch in Schuberts Raum fühlt man sich schwebend und vollständig umfasst, oder auch geblendet und ohne Wärme, verschiedene Alterstufen begegnen oder überschneiden sich. Die Aufhebung von Zeit durch das popkulturelle Zitat und die Lichtsituation verstärken wiederum die Wirkung, in eine kindliche Situation zurückversetzt zu werden.

Unmittelbar legt sich mir als Psychotherapeutin eine Verbindung zu seelischen Traumata nahe im Sinne von Grenzüberschreitungen oder missbräuchlichen Situationen, die Kinder nicht einordnen können und die diese tief verletzen. Solche Erlebnisse lassen Spuren zurück, die lange noch wirksam bleiben, ohne bewusst verstanden zu werden. Brennende Häuser und Einrichtungsgegenstände, unmöglich erscheinende Treppenhäuser und tiefschwarze Zeichnungen vertiefen den Eindruck, es werden verstörende Erlebnisse künstlerisch verarbeitet. Allerdings werden in anderen Räumen oft wiederum spielerische Bildbrechungen angeboten. So wird ein Haus um 90 Grad gedreht, man kann es betreten, sich in mehreren Spiegeln anschauen und auch einen kleinen Geist finden, der im Haus versteckt ist. Simon Schubert führt in seinem Schattenreich keine Abgründe vor, sondern bietet eine Reise durch sehr unterschiedliche Räume der Seele an.

Empfehlen möchte ich den Besuch der Ausstellung nicht, weil ich denke der Künstler hat seelische Traumata verarbeitet, sondern weil man an einigen Stellen bildlich erleben kann, wie sich Raum und Zeit aufheben und wie einzelne Ereignisse in diesem nicht-linearen und nicht-logischen Zuständen mit Bedeutung aufgeladen werden können. Dies ist eine Analogie zur psychologischen Betrachtung von Lebensgeschichten und Symptomentstehungen und machte mir den Besuch persönlich und beruflich zu einer Bereicherung.

Simon Schuberts Austellung Schattenreich ist noch bis zum 19. April 2020 im Museum Morsbroich zu sehen. Kubricks „2001: A Space Odyssey“ (1968) und Tim Burtons „Alice in Wonderland“ (2010) findet man bei Amazon Prime – oder im eigenen DVD-Schrank. Eine deutsche Ausgabe von Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“ gibt es zum Beispiel als Insel Taschenbuch gebraucht hier.

Schattenreich (Schlafraum) 2019, © Simon Schubert
Schattenreich (Rahmenkabinett) 2019, © Simon Schubert
Die verbotene Reprobation 2007,
© Simon Schubert
ohne Titel (Licht im Treppenhaus), 2016,
© Simon Schubert