Forschung

„Krankheit – das Fehlen von Gesundheit“ – ein Vortrag von Dirk Lanzerath

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©️Pernak Wikicommons

Kann eine Begriffsklärung durch einen Philosophieprofessor für die psychotherapeutische Tätigkeit gewinnbringend sein? Oder ist es in dieser Tätigkeit nicht eher hinderlich, sich konsequent „nur denkend“ einem Gegenstand zu nähern? Und bieten die Störungsmodelle der psychologischen Theorien nicht ausreichend Diskussionsgrundlage für das Thema, was denn eigentlich Krankheit sei?

Dirk Lanzerath geht in seinem Vortrag von einer philosophischen Haltung aus, die nicht rein argumentierend verfährt, sondern er stellt den Husserlschen Begriff des lebensweltlichen Zugangs an den Anfang. Damit setzt er eine subjektbezogene Einheit von Ich und Welt an den Anfang, in der vortheoretisch und unhinterfragt natürliche Einstellungen beschrieben werden und insbesondere das Ich nicht systematisch ausgeklammert wird. Die naturwissenschaftlich arbeitende Medizin dagegen laufe Gefahr, das Teil, also ihre an Daten und Fragmentierungen orientierten Ergebnisse, als das Ganze, also die Lebenswelt ihrer Patienten, anzusehen. Die Überführung von wissenschaftlichem Wissen in Lebenswelten hält Lanzerath für ein zentrales Thema, und dies ist nur möglich, wenn sowohl das Erleben des Kranken als auch die Kommunikation zwischen Arzt und Patient stärker in den Fokus rücken. 

Was mich zur Empfehlung des Vortrags brachte, ist Lanzeraths Ausdrucksweise, die ein unmittelbares Verstehen möglich macht. Man denkt – erneut – über das Thema der Pathologisierung der Trauer nach durch die Klassifikation als behandlungswürdige Krankheit, wenn sie mehr als zwei Wochen andauert. Oder über das mit großem Leiden verbundene Problem, das sich unter der Diagnose ADHS verbirgt, das aber wissenschaftlich fragmentiert wird und getrennt biochemisch, systemisch, tiefenpsychologisch und schulpolitisch behandelt wird. Auch die Gesundheitsökonomie und das Denken in statistischen Modellen werden befragt und in ihren ethischen Konsequenzen diskutiert.

Entsprechend seiner phänomenologischen Herangehensweise vertieft Lanzerath seine Thesen an einem Beispiel. Die Mitteilung von belastenden Labordaten durch Ärzte an Patienten könnten nur dann erfolgreich in deren Lebenswelten integriert werden, wenn auch beim Behandelnden eine Beschäftigung mit dem Krankheitsbegriff stattfinde. Krankheit mache spürbar, dass man mit seinem Körper identisch ist und zugleich von ihm wie von außen bestimmt werde, er sei weder ausschließlich Person noch Sache. Die Unsicherheit der gesamten Welt, deren Teil wir sind, werde erfahrbar, und auch als Gesunder rücke Verwundbarkeit und Sterblichkeit nahe, wenn man mit Kranken zu tun habe. Es wird hier ein Krankheitsbegriff als praktischer Handlungsbegriff vorgeschlagen, bei dem das, was der Patient mitteilt, wesentlich zur Konstituierung der Krankheit dazugehöre und der Arzt bei der Umsetzung des Krankheitsbegriff in die Lebenswelten des Patienten behilflich sein solle.

Ein anregender Vortrag, der seine Verortung in der Ethik nicht verbirgt und zu grundsätzlichen Gedanken über unser Krankheitsverständnis anregen kann, insbesondere wie wir in unserer speziellen Situation als PsychotherapeutInnen das individuelle Krankheitserleben mitgestalten. Wir suchen in einem gemeinsamen Prozess Worte und Geschichten, in denen der lebensweltliche Zustand von Kranksein gefasst wird, wir verwenden und erproben sie im Übergangsraum der Sitzungen und initiieren damit Handlungen, die mit Veränderungen einhergehen können. Bei diesem Vorgehen sich ethisch zu hinterfragen und zu einer Position zu kommen, sehe ich insbesondere in der aktuellen gesellschaftlichen Situation als sehr hilfreich an.

Prof. Dr. Dirk Lanzerath ist Philosophieprofessor, Geschäftsführer des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften sowie Mitglied der Ethikkommission der Bundesärztekammer. Sein Vortrag wurde am 28.01.2020 in Berlin gehalten im Rahmen  des Symposiums „Verständnis(se) von Gesundheit“ der Berlin-Brandeburgischen Akademie der Wissenschaften, zu finden bei DLF Nova.

Forschung

„Maligner Narzissmus“ – ein Podcast von Jakob Müller

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© Mia Florentine Weiss 2015

Amokläufer und rassistische Attentäter sind 2020 aus unserer Lebensrealität nicht mehr wegzudenken und ihr tiefer Hass ist Gegenstand vieler Erklärungsversuche. Der hier empfohlene Vortrag aus der Reihe „Rätsel des Unbewussten“ stellt sich dem Thema zwar vom Individuellen ausgehend und konsequent psychoanalytisch, einiges davon kann durchaus auch auf soziale Prozesse übertragen werden.

Ruhig und differenziert nähert sich Jakob Müller dem Gegenstand, indem er die übereinstimmend zu findenden Kennzeichen der malignen Narzissmus anschaulich und gut verständlich darstellt. Sadismus, Despotismus, Machiavellismus, Charme und Charisma sowie Paranoia sind die Eckpunkte der Beschreibung, und in diesen Ausführungen wird oftmals auf die Art der Beziehungsgestaltung eingegangen, die dieser Persönlichkeitsstörung eigen ist. Konsequent intersubjektiv betrachtet ist im sadistischen Verhalten ein Rest an Empathie zu erkennen: das Leid des anderen wird genossen, was zugleich auch bedeutet, dass es seelisch wahrgenommen wird (im Unterschied zur Psychopathie, wo andere Menschen nur Objekte sind). Despotisch sein bedeutet über andere zu herrschen, um sich keinesfalls von diesen beherrschen zu lassen, im Machiavellismus steckt eine Totalablehnung der Bedeutung des anderen (gut ist nur das, was mir nützt). Charme und Charisma dienen dazu, durch gewinnenden Umgang mit anderen die eigene riesige Sehnsucht nach Bewunderung zu stillen und in der Paranoia wird auf der Basis von mangelndem Vertrauen und anknüpfend an eigene Misserfolge und Kränkungen die Schuld dafür bei anderen gesucht, bei Einzelnen, Gruppen, Organisationen bis hin zu wahnhaften Erklärungssytemen.

Unerträgliche Leere und Sinnlosigkeit bestimmen die Innenwelt beim malignen Narzissmus, sie wird versucht mit Erfolgen auf verschiedenen Ebenen zu füllen und sie ist ein Einfallstor für Weltanschauungen, die diese vermeintlich füllen sollen. Das Gefühl zu kurz gekommen zu sein ist übermächtig, daraus resultiert ein Hass auf alles Schwache (soziale Randgruppen, Frauen, Kinder, Tiere u.a.), also auch auf Schwaches in einem selbst. Als zentral in den psychodynamischen Überlegungen wird dieser Selbsthass angesehen, resultierend aus frühen Beziehungserfahrungen, in denen Missachtung und Entwürdigung, oder aber sexueller/sich liebevoll darstellender emotionaler Missbrauch vorherrschten. Die wiederholt erlebte seelische Vernichtungsdrohung wird gewendet in Beherrschen und Auslöschen von allem Schwachen in sich, als letzte Überlebensstrategie wird das Schwache in sich auf andere projiziert, dort gehasst, zu beherrschen versucht und oftmals zerstört. Ausgehend vom Selbsthass wird so auch die Selbstauslöschung von Tätern erklärbar.

Herbert Rosenfeld hat den malignen Narzissmus als erster charakterisiert, und das Bild, das er für das zugehörige Seelenleben findet, ist erschreckend. Es sei wie ein Staat ohne Gesetze, es gelte nur das Recht des Stärkeren, es gebe keine Institutionen, die die eigenen Interessen vertreten oder schützen, in diesem zerfallenen Staat entstehen mafiöse Strukturen, deren gewalttätige Organisationsformen mehr Schutz geben als der Zustand davor, allerdings müsse man sich dem Diktator ganz verschreiben, es gebe kein Entrinnen und Abweichler werden getötet.

Entsprechend der geschilderten Dynamik ist auch die Psychotherapie mit solchen Störungen schwer bis unmöglich. Der Behandelnde wird attackiert, da er dem Schwachen in sich und in dem Patienten ein Lebensrecht zugesteht, aber wenn im Patienten eine Hoffnung vorhanden ist, dennoch nicht verlassen zu werden, kann diese gestärkt werden und er erfährt vom Gegenüber eine lange vermisste Treue zum liebesbedürftigen Teil im Patienten, die die oft destruktiven Kämpfe in der Behandlung aushaltbar machen können. Müller fasst dies zusammen in der Aussage, Hass bindet mit gleicher Kraft wie Liebe.

Nach dem Hören des Vortrags könnte man für die Betrachtung von Attentaten schlussfolgern, dass Menschen mit einem maligne-narzisstischen Hintergrund sich dessen bedienen, was ihnen die Gesellschaft an Wegen bietet, ihre Fremdherrschaft auszuüben, oder wie Carolin Emcke schreibt, Hass braucht vorgeprägte Muster, in die er sich ausschüttet. Diese Muster aufmerksam zu verfolgen und versuchen zu ändern ist ein wichtiger Schritt der Bekämpfung. Ebenso erschien mir aber die Formulierung beachtenswert, „der Schwäche in sich ein Lebensrecht zugestehen“ und „die Treue zum liebebedürftigen Teil anzubieten“. Übertragen kann das heißen, z.B. zur ‚Schwachheit‘ der menschlichen Grundhaltung zu stehen, Ertrinkende im Meer retten zu wollen. Oder in offenen sozialen Räumen Stärke und Schwäche gleichberechtigt darzustellen. Oder zur Schwäche der Demokratie zu stehen: In ihr kann nicht stark oder auch despotisch geherrscht werden, sondern es müssen schwierige Kompromisse unterschiedlicher Interessen in langwierigen Prozessen ausgehandelt werden.

Umgang mit Schwäche im öffentlichen Raum muss in diesem Sinne nicht eine Einladung zur Täterschaft sein. Man wird das Bild von Jacinda Ardern, Premierministerin von Neuseeland, lange nicht vergessen, wie sie 2019 mit Kopftuch den Opfern des Attentats in Christchurch ihr Beileid und ihre Unterstützung zeigte. Keine narzisstische Zufuhr der Täter und Gleichgesinnter durch ausführliche Berichterstattung, sondern konsequente „Treue zum liebedürftigen Teil“, nicht im Täter, sondern in den Trauernden. Und damit der Schwäche ein Lebensrecht zugestehen.

Der Beitrag von Jakob Müller findet sich hier, er ist Teil der Podcast-Reihe „Rätsel des Unbewussten“. Herbert Rosenfelds grundlegenden Aufsatz findet man hier, einen Beitrag zum Narzissmus von Jakob Müller hier. Eventuell ergänzend zu psychoanalytischen Überlegungen bezogen auf gesellschaftliche Prozesse Georg Seeßlens Beitrag zum Anschlag in Hanau bei ZEIT online hier. Carolin Emckes Buch „Gegen des Hass“ von 2016 kann man hier erwerben.

Die Abbildung zeigt die überdimensionale Stahl-Skulptur von Mia Florentine Weiss vor dem Senckenberg Museum in Frankfurt/Main, Love von einer Seite, Hate von der anderen Seite (2015).

Forschung

„Die Palliativversorgung in Deutschland“ – ein Vortrag von Lukas Radbruch

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© Edith Buchhalter 2019

Niemand hat den Tod erlebt und könnte davon berichten, aber jeder Mensch weiß, dass er sterben wird. Diese Leerstellenparadoxie der menschlichen Existenz wird gefüllt mit Ritualen, besonderen Umgangsweisen und Szenerien, mit spezieller Musik und mit der Gestaltung bestimmter Orte. Aber der Sterbeprozess als wissenschaftliches Thema ist in der heutigen Gesellschaft, in der Selbstoptimierung und Technisierung vorherrschen, eher ungewöhnlich. Immer noch sprechen Menschen nicht gerne über das Sterben, obwohl es laut einer Studie des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes bei einem großen Teil der Bevölkerung den Wunsch nach mehr Informationen zu und einer intensiveren Beschäftigung mit dem Thema gibt. Ein weiterer Blogbeitrag zum Sterben (nach diesem) erschien mir deshalb folgerichtig, auch, um das Thema in mein eigenes Leben, Arbeiten und Denken zu integrieren.

Palliative Versorgung meint die ganzheitliche, aktive Betreuung von Menschen mit unbehandelbaren Krankheiten, um diesen ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Lukas Radbruch beginnt seinen Vortrag mit vielen Informationen zum Begriff „Palliativmedizin“ und beschreibt die typische Arbeitsweise einschließlich vieler auftretender Probleme. Er ist Kliniker, und man merkt seinem Vortrag an, dass er seinen Arbeitsalltag auf einer Palliativstation verbringt und daher sehr lebendig, manchmal humorvoll, manchmal betroffen davon berichten kann.

Fasziniert hat mich beim Hören des Vortrags, wie Lukas Radbruch von medizinischen Informationen ausgehend immer mehr ganzheitliche und die gängige medizinische Auffassung verlassende Forschungsansätze präsentiert beziehungsweise verstärkt fordert. Ganz selbstverständlich wird z.B. beim Thema „Essen in der Sterbephase“ das kulturelle Bild von Versorgung als ein wesentlicher Faktor angesehen. So können viele Menschen in dieser Phase körperlich keine Nahrung mehr verwerten, aber die Freiheit, nicht mehr zu essen, muss erstritten werden gegen die gängige Vorstellung, man müsse doch essen, um zu Kräften zu kommen. Andererseits wird ein schwer verträgliches, fetthaltiges Essen, bei dem sofortiges Übergeben erwartet wird, genussvoll vertragen, da es von der Mutter zubereitet wurde. Hier wird die bedeutsame Beziehung zur Mutter selbstverständlich als Wirkfaktor angesehen. Entsprechend dieser Haltung werden Studien gefordert, in denen interdisziplinäre Strukturen zum Zuge kommen, mit sozial-, geistes- human- und naturwissenschaftlichen Ansätzen sowie Erforschung der Angehörigenbetreuung.

Berichtet wird auch von einer europaweiten empirischen Studie zum assistierten Suizid, in der übereinstimmend die Haltung vertreten wird, diesen nicht in die palliative Versorgung zu integrieren, sondern als ein konkurrierendes Angebot zu verstehen (in den Ländern, in denen das rechtlich möglich ist). Wichtig an dieser Stelle war für mich, dass Radbruch empfiehlt, wenn ein Patient einen Sterbewunsch äußert, zunächst nach der Motivation zu fragen, denn meist erwarten die Patienten in dieser Situation nicht mehr, als dass man ihnen zuhört und sie ernst nimmt. Das klingt einfach, ist aber weder im Berufsverständnis eines Arztes noch im Stationsalltag verankert. Wenn der betreuende Arzt überhaupt Zeit hat, will er oft den Sterbewunsch nicht hören, da er meint sonst den Psychiater rufen zu müssen. Radbruch aber hebt hervor, dass es in den Situationen meist eher um Akzeptanz für die aktuellen Empfindungen des Patienten geht, um Informationen zu Alternativen wie Symptomkontrolle und Sedationsmöglichkeiten und zu der Option, Flüssigkeit und Nahrung zu verweigern. Oder einfach darum aktuell die Sicherheit zu spüren, für einen späteren, schlimmeren Zustand noch etwas in der Hinterhand zu haben.

Vieles, was angesprochen wird, kann im Zusammenhang gesehen werden mit der in unserer Gesellschaft vorherrschenden Verdrängung von Tod und Sterben. Radbruch pointiert dies in der Frage, ob das Auto des Bestatters in einer Klinik die Toten am Hintereingang abholen muss, oder ob es am Haupteingang vorfahren darf. „Wer bei uns zum Haupteingang hereinkommt, soll dort auch wieder hinauskommen“, ist seine Meinung dazu.

Lukas Radbruch ist Professor für Palliativmedizin in Bonn und der Vortrag wurde 2018 gehalten während der Jahrestagung der Leopoldina, der Nationalen Akademie für Wissenschaften, zu finden hier (ab Minute 26) bei DLF Nova Hörsaal. Hier findet man einen weiteren Vortrag von Lukas Radbruch mit einer Fülle an medizinischen und klinischen Informationen rund um das Thema Sterben, der Titel lautet: „Wie ein Arzt das Sterben erlebt“.

An dieser Stelle möchte ich aus psychodynamischer Sicht den Band „Forum der Psychoanalyse“ 35/2019 empfehlen: „Zur Psychoanalyse des Alterns und Sterbens“, mit Beiträgen von Michael Ermann, Jakob Müller/Cecilie Loetz und anderen, hier kann man das Editorial von Timo Storck lesen.

Forschung

„Wiederkehr der Kindheit?“ – ein Vortrag von Jakob Müller

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®Edith Buchhalter 2007

Menschen in der Sterbephase als Gegenstand einer psychoanalytisch-empirischen Untersuchung – dies rief zwiespältige Gefühle in mir wach. Die Kombination von Empirie und Psychoanalyse ist eher selten, machte mich also neugierig, der Prozess des Sterbens aber ist ein Thema, um das man gerne einen großen Bogen macht. Psychologisch gesehen kann man beim Tod eines Menschen bestimmte seelische Bewältigungsmechanismen genau beobachten, es gibt Überaktivisimus, Distanzierung, Ratlosigkeit, scheiternde Sublimierungen, Technokratisierungstendenzen und vieles mehr. Aber in der Beschäftigung mit dem Thema rückt auch sehr nahe, dass das eigene Sterben unabänderlich ist, eine oft im Alltag verdrängte Tatsache.

Jakob Müller spricht zu diesem Thema in seinem hier empfohlenen Vortrag mit einer überzeugenden Mischung aus klarer Darstellung des wissenschaftlichen Bezugsrahmens (Bindungstheorie) und der empirischen Vorgehensweise (teilnehmende Untersuchung auf der palliativmedizinischen Station eines Krankenhauses) sowie einfühlsamer Einzelfallschilderung. Kindheit und Sterbephase werden von ihm in verschiedenen polaren Dimensionen miteinander verglichen, hinsichtlich Aktivität – Passivität, Vertikalität (wer steht oben, wer liegt unten?), Analität (Kontrolle der Ausscheidungen), Oralität (kann man sein Essen selbständig zu sich nehmen?), und Sauerstoffversorgung (Nabelschnur und Beatmungsgerät). Sehr interessiert hat mich dabei die dezidierte Aussage, die Sterbephase ähnele der Kindheit in zwei entscheidenden Aspekten: seelische Grundkonflikte werden virulent und dyadische Beziehungen treten in den Vordergrund. Der triangulierende Raum verschwinde immer mehr, so wie er umgekehrt in der Kindheit von Anfang an fortschreitend in der Entwicklung erobert und gestaltet werden musste.

Kindheit und Sterbephase auf diese Art und Weise zusammen zu sehen eröffnete neue Sichtweisen. Die Sterbephase als eine traumatische Situation reaktiviert früh erworbene Bindungsmuster, die ja gerade in unsicheren Situationen deutlich hervortreten. Bindungstheoretisches Wissen kann daher hilfreich sein, diese Bindungsstile zu erkennen und damit umzugehen. Ausgehend von der Hypothese der Zeitlosigkeit von Mustern und Strukturen werden frühere Schichten freigelegt, es kommt zu regressiven Verhaltensweisen. Aber es sind auch rückwirkend korrigierende Erfahrungen möglich, die frühen Erfahrungen werden womöglich anders erinnert und in den Beziehungen zu Angehörigen und Betreuenden können Veränderungen ausprobiert werden: Distanzierungen überwinden, Schwäche zeigen, eigene Bedürfnisse deutlicher äußern und anderes mehr.

Sehr lebendig werden all diese Erkenntnisse im Vortrag durch den mit viel Wärme und dennoch professioneller Distanz geschilderten Einzelfall, dem Sterbeprozess eines Mannes, dem gegen Ende seines Lebens durch die Gestaltung des Sterbeprozesses auf der Station neue Begegnungen mit nahestehenden Menschen ermöglicht wurde.

Die Beschäftigung mit Bindung in der Sterbephase machte mir auch eine ganz spezielle Paradoxie spürbar. Die Mutter stellt in der Kindheit ein Versprechen dar: ich mache etwas zu essen für dich, ich halte dich warm, ich bin da, auch wenn du mich nicht siehst und du kannst beruhigt einschlafen, denn morgen früh wachst du wieder auf. In der letzten Lebensphase ist es eine große Herausforderung, zu den Sterbenden eine versorgend-warme, haltende, vielleicht sogar neue Aspekte anbietende Beziehung aufzubauen in dem klaren Wissen, dass der Tag, an dem der Sterbende nicht mehr aufwachen wird, greifbar nahe ist.

Den Vortrag empfehle ich auch, da in der heutigen säkularisierten Kultur psychotherapeutisch Tätige oft mit Aufgaben betraut sind, die eher seelsorgerischer Natur sind. Man kann es daher gut gebrauchen, sich mit dem Thema Sterben beschäftigt zu haben, denn es ist in vielen Behandlungen ‚mit im Raum‘, sei es dass jemand schwer erkrankt, Eltern sterben, Todesfälle in der Lebensgeschichte eine Rolle spielen oder eine Berufstätigkeit in diesem Bereich besteht.

Dr. Jakob Müller ist Dipl.-Psychologe und Psychoanalytiker und sein Vortrag, basierend auf seiner Dissertation, wurde gehalten am 05.10.2019 im Rahmen der Herbstakademie der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft an der Universität Heidelberg. Er ist hier als Podcast zu hören und die Buchveröffentlichung zur Dissertation mit dem Titel „Bindung am Lebensende“ (2018) ist hier zu erwerben.

Bücher

„Der Panama-Hut oder Was einen guten Therapeuten ausmacht“ – ein Buch von Irvin D. Yalom

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Fotografie: unbekannt

Ein guter Therapeut sollte handeln, Fehler eingestehen, eine Diagnose vermeiden, die eigenen Probleme offen benennen und Hausbesuche machen? Da regt sich Widerspruch, und das ist für mich eins der Hauptargumente, dieses Buch zu lesen – außer den vielen Beispielen und der unzweifelhaft großen literarischen Kompetenz des Autors. Eine Zusammenstellung von 85 Ratschlägen (plus Anhang) ist schon an sich eine Provokation, denn sowohl Konzepte über das Entstehen von Störungsbildern als auch Behandlungskonzepte findet man selten in dieser Form. Aber ein lebenserfahrener Psychiater und Psychotherapeut kann und darf sich seinem Thema ungebunden nähern. Dies trägt zur guten Lesbarkeit bei, enthebt einen aber nicht vom Nachdenken und Vergleichen mit der eigenen Arbeitsweise.

Manches ist nicht neu, zum Beispiel dass sich durch therapeutisches Handeln eine andere als die beabsichtigte Wirkung einstellt, dies aber sehr fruchtbar sein kann. Einer Trost benötigenden Patientin bot Yalom an, ihre Sitzung auf einen Zeitpunkt zu verschieben, an dem sie nicht von ihrer Arbeit freinehmen müsse, damit sie es leichter habe. Die Patientin dagegen fühlte sich dadurch abgelehnt und war überzeugt davon, dass die Stunden mit ihr der Tiefpunkt seiner Woche seien. Die Gespräche wurden dadurch aber „auf das fruchtbare Terrain ihrer eigenen Selbstverachtung und der Projektion ihres Selbsthasses“ auf den Therapeuten geführt.

Manches wird kurz und knackig geschrieben, manches nimmt viel Raum ein, wie der Umgang mit Träumen, die der Autor vorschlägt zu „plündern“, also das zu entnehmen, was zeitlich und thematisch am besten zu gebrauchen ist. Grundsätzlich aber ist die reflektierende Ebene immer enthalten, also Ratschläge werden begründet und diskutiert. Und dies geschieht auch bei der Lektüre: man blättert herum, liest sich fest, findet eigene `Regeln`wieder, man lehnt etwas ab, denkt nach und positioniert sich neu. Oder man genießt die Bearbeitung eines nur allzu bekannten Themas: Wie gehe ich mit verliebten Patient/innen um? Man möchte nicht zum „Henker der Liebe werden“, man weiß aber um die Verfallzeit des Verliebtseingefühls. Yaloms ausführlicher Ratschlag dazu zentriert sich um das „behutsame Entwickeln einer langfristigen Perspektive“, ohne in Kritik an dem „goldenen Gefühl“ des Verliebtseins zu verfallen.

Schwierig ist es, dass Yalom als jemand auftritt, der sehr überzeugt von sich und seinen Fähigkeiten ist und dies in bewundernswerter sprachlicher Kompetenz darzustellen weiß. Dennoch fühlte ich mich – meist – nicht abgehängt oder überheblich behandelt. Dies könnte daran liegen, dass der Autor seine narzisstischen Tendenzen an einigen Stellen thematisiert, oder auch daran, dass für ihn glaubhaft die Menschen im Vordergrund stehen, die zu ihm kommen und an sich arbeiten möchten, sowie die Therapeuten, die sein Buch lesen und an sich arbeiten möchten.

Irvin D. Yalom (* 1931) war Professor für Psychiatrie an der Stanford University und hat zahlreiche Romane und Fachbücher veröffentlicht. Basis seiner intersubjektiven und psychodynamischen Herangehensweise ist die existenzielle Psychotherapie. Das empfohlene Buch ist 2002 unter dem Titel „The Gift of Therapy“ in New York erschienen und auf Deutsch im btb Verlag erschienen

Szenen aus Sitzungen mit Yalom werden von ihm besprochen und sind bei Youtube zum Beispiel hier zu finden.

Forschung

„Vom Umgang mit Risiko und Unsicherheit – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ – ein Vortrag von Gerd Gigerenzer

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Branko Radovanović

Sowohl die derzeitige politische Situation als auch der Expertenstatus als psychotherapeutisch Tätige/r machen es nötig, etwas über „statistisches Denken“ zu wissen. Dies wird jedenfalls nach dem Hören des Vortrags von Gerd Gigerenzer, Psychologe und Risikokompetenzforscher, nur allzu deutlich. Die Manipulation von Ängsten durch Politik und Werbung wird hier in (meist) gut verständlichen Schritten erklärt und die Beispiele aus dem Alltag (Parship-Werbung, Hai-Tote, Wettervorhersage und Zahlen zum Equal Pay Day) sind einleuchtend und manchmal auch unterhaltsam. Eher neu und schockierend aber ist es, wenn tödliche Auswirkungen aufgezeigt werden. So stieg die Zahl der Toten auf US-amerikanischen Highways bei Langstrecken nach dem Terroranschlag auf die Twintowers 2001 stark an, da das Fliegen in der Folgezeit vermieden wurde, die Wahrscheinlichkeit zu sterben auf einer Autofahrt aber viel höher ist. Oder es wurden in Großbritannien nach einer Meldung, dass bei der Anti-Baby-Pille der dritten Generation das Thromboserisiko um 100 % angestiegen sei, nach Absetzen der Verhütung ca 13.000 Abtreibungen mehr als vor der Meldung durchgeführt. Dabei stieg die absolute Wahrscheinlichkeit lediglich von 1 Erkrankung bei 7000 Frauen auf 2 Erkrankungen bei 7000 Frauen.

Die Forschungen zur Risikokompetenz haben ergeben, dass viele Expertengruppen bezüglich des Nicht-Wissens den meisten Menschen nicht nachstehen. So ist wird in Befragungen deutlich, dass Ärzte häufig den Unterschied zwischen Mortalitätsrate und Überlebensrate nicht sachgerecht anwenden können und daher die Empfehlungen zu bestimmten Tests unterschiedlich treffen. Aufklärerisches Wissen über Wahrscheinlichkeiten Journalisten, Ärzten und anderen Experten zu vermitteln, ist Gerd Gigerenzer ein Anliegen, und das merkt man seinem Vortrag an. Manchmal wirkt er väterlich belehrend, aber manchmal eben auch spürbar betroffen, und immer engagiert in seinem aufklärerischen Impetus, Kants Wahlspruch umzusetzen, mit Mut den Verstand, den jeder hat, auch zu gebrauchen.

Gerd Gigerenzer ist Direktor emeritus des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Der Vortrag wurde gehalten am 2. März 2019 in der Vortragsreihe „exkurs“ der DFG in Leipzig und ist hier beim DLF zu hören.

Auch lesenswert als Übung zum Umgang mit Risiken und Zahlen im Alltag ist die Website Unstatistik des Monats, an der Gerd Gigerenzer mitarbeitet.

Fotografie: Branko Radovanovic

Bücher

„Der Umgang mit Ambiguität“ – ein Essay des Islamisten Thomas Bauer

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Edith Buchhalter 2010

Der Blick aus dem Fenster der eigenen Psychotherapiepraxis führt mich oft in die Zeitgeschichte, denn die Menschen, die zu mir kommen, leben unter politischen, kulturellen oder religiösen Bedingungen. Thomas Bauer ist Islamist, Exzellenzwissenschaftler und Preisträger des ersten deutschen Sachbuchpreises in den Geisteswissenschaften. Sein Essay zur Ambiguität im Sinne von Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit in der heutigen Zeit ist spannnend, da sein Wissen um die Geschichte des Islam einfließt in allgemeine Betrachtungen zur aktuellen deutschen „Mentalität“. Seine Grundthese: derzeit herrsche eine Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit vor, die zu vielen der aktuellen gesellschaftlichen Probleme beitrage.

Zum Thema: Else Frenkel-Brunswik (1908 – 1958), eine deutsch-amerikanische Psychologin forschte als erste zum Persönlichkeitsmerkmal „Ambiguitätstoleranz“, das insbesondere bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Entstehung des Faschismus in Deutschland herausgearbeitet wurde. Wie weit kann die Mehrdeutigkeit eines Phänomens ausgehalten werden? Wie wird damit umgegangen? Auf welchem Hintergrund entsteht ein Druck zur Eindeutigkeit von Weltauslegung? Bauer überträgt in seinem Essay diese Fragen auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und berührt dabei die Geschichte des Islam, der katholischen Kirche, den heutigen Umgang mit Sexualität, Popkultur, das Leben eines deutschen Rassentheoretikers und vieles mehr.

Man braucht etwas Zeit, um sich in die Denk- und Argumentationslogik des Buches einzulesen, denn Bauer ist kein empirischer Sozialforscher oder Psychologe, obwohl er auf Erkenntnisse dieser Bereiche zurückgreift. Eher geht es um „Mentalitätsgeschichte“, und das wird höchst spannend, wenn anhand der vielen Begriffsklärungen große Linien gezogen werden, aber anschauliche Beispiele nicht zu kurz kommen. Neu könnte es für Leser z.B. sein, dass islamisch geprägte Kulturen lange Zeit sehr ambiguitätstolerant waren. In den letzten 1000 Jahren vor dem 20. Jahrhundert gab es dort quasi keine Steinigungen von Ehebrechern, homosexuelle Aktivitäten wurden ausgeführt, beschrieben, literarisch verarbeitet, aber Menschen wurden nicht eindeutig in homosexuell oder heterosexuell klassifiziert. Auch wurden dauerhaft neue Auslegungen des Koran produziert, eine einzig Wahrheit aber gab es dabei nicht, und als bei einer sehr großen Anzahl der Auslegungen eine Schwerpunktsetzung unumgänglich schien, wurde eine überschaubare Anzahl als bedeutsam gewertet, die anderen aber weiter aufbewahrt, gelehrt und ergänzt.

Vergleichbares findet sich auch in der katholischen Kirche, die im 17. und 18. Jahrhundert ihren Missionaren in Persien eine höchst schwierige Frage beantworten musste. Die armenischen Christen, die den Papst als Oberhaupt angenommen hatten und die man in der Missionierung dringend benötigte, praktizierten dennoch die Kinderehe. Rom schrieb: Nihil esse respondendum – Es soll nicht geantwortet werden. Dieser Beschluss, der beschließt, nichts zu beschließen, ist ein Beispiel für die Ambiguitätstoleranz der katholischen Kirche, die viel zu ihrem Fortbestand beigetragen habe.

In beiden Religionen setzte mit dem Beginn der Moderne und sich steigernd mit der Globalisierung ein Verlust der Ambiguitätstoleranz ein, der zu der nicht neuen, aber gut belegten These führt, dass die Tendenz zur Vereindeutigung es möglich macht, sich vom anderen, Fremden abzuheben.

Zum Nachdenken bringt der Aspekt, dass man bei praktizierter Religiosität (im Gegensatz zu agnostischer Gleichgültigkeit oder Fundamentalismus) Ambiguität trainieren kann, denn Transzendenz anzuerkennen führt zwangsläufig in mehrdeutiges Erleben. Ein Göttliches ist nicht kategorisierbar, anfassbar oder überindividuell zu bestimmen, ebenso wie die Kommunikation mit dem Göttlichen in Form von heiligen Texten nie eindeutig sein kann.

Wenig verwundert hat mich, dass auch der Bereich der Kunst für Bauer zum Thema wird, allerdings mit z.T. erstaunlichen Resultaten. Es gebe gerade in der Moderne eine Tendenz zur Reinheit, Wahrheit und Geschichtslosigkeit, die Begleiterscheinungen der Ambiguitätsintoleranz, Beispiele dafür seien die Zwölftonmusik und die serielle Musik, der Abstrakte Expressionismus oder die „Ästhetik der Glätte“ eines Jeff Koons. Ist aber abstrakte Kunst nicht gerade offen und für verschiedene Auslegungen geeignet? Bauer argumentiert, bedeutungs-, geschichtlos- und konventionslos lade Kunst nicht zur Mehrdeutigkeit ein, nicht zum Changieren im Einlassen auf verschiedene Ebenen und einen Mittelweg finden, mit ungedeuteten Resten.

Man wird bei der Lektüre zum inneren Diskutieren aufgefordert, man reflektiert über den Begriff der Authentizität, über den Markt, in dem der Wert einer Sache eindeutig festlegt werden muss, damit Handel getrieben werden kann, über den politischen Begriff der Identität und über den Maschinenmenschen. Und man kann sich innerlich positionieren, denn man wird nicht in eine Argumentation oder ein Denkgebäude hinein gezwungen, sondern auf eine eigentümlich altmodische Art und Weise zum Nachdenken angeregt. Und: ist der psychotherapeutische Prozess nicht auch ein ständiges Arbeiten an der Auflösung der unumstößlichen, aber selbstbehindernden Vereindeutigungen unserer Patienten, mit dem Ziel, den Wiederholungszwängen mehrdeutige Auslegungen von Wirklichkeit gegenüberzustellen, ja für diese zu werben?

Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, reclam 2018, 97 Seiten

Hier ein Interview mit dem Autor im Tagesspiegel

Forschung

Youtube Kanal „maiLab“ zum Placeboeffekt

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Edith Buchhalter 2014

Wieso kann man als Psychologin ein Youtube-Video zum Thema „Placebo-Effekt“ mit Gewinn anschauen? Weil es ein Thema ist, bei dem es um die Wirkung zwischenmenschlicher Interaktion geht, und zwar bei der Behandlung von Krankheiten durch Medikamente. Sicher hat man sich als Psychotherapeut/in schon mal gefragt, was geschieht, wenn Zuckerpillen helfen, aber kann man es genau aufdröseln? Mai Thi Nguyen-Kim ist eine deutsche Wissenschaftlerin, promoviert in Chemie, die in ihrem Youtube-Kanal (maiLab bei funk) wissenschaftliche Themen so darstellt, dass sie für ein nicht wissenschaftliches und junges Publikum verständlich sind, und dies auf unterhaltsame Art und Weise. In diesem Video erfährt man, wie nachgewiesen wurde, dass der Placeboeffekt keine Einbildung ist, sondern durchaus physiologisch nachweisbar, man erfährt, dass es nicht nur um Erwartung geht, sondern auch um Phänomene wie Regression zur Mitte und Response Bias, und es wird ein Forscher von der Uniklinik Essen, Manfred Schedlowski, befragt, der zu dem Schluss kommt, „dass über die Erwartung, die ich modulieren kann, in der Kommunikation mit dem Patienten, dass ich da die Wirkung von Medikamenten, von medizinischen Behandlungen allgemein, verbessern kann.“

Erinnert hat mich das Video an aktuelle Fragen zur Repräsentanz von seelischen Wirkungen im Gehirn. Es ist ein psychologischer Allgemeinplatz, dass Körper und Seele eine Einheit bilden, aber hier wird es in der Sprache der Naturwissenschaft und der klinisch-medizinischen Studien formuliert und kann eventuell Argumentationshilfen liefern, wenn man mit anderen über dieses Thema ins Gespräch kommt.

Das Video gibt es hier zu sehen.

Im gleichen Kanal findet man übrigens einen Faktencheck zum Video „Die Zerstörung der CDU“ des Youtubers Rezo, der beweist, wie ernsthaft dabei recherchiert wurde.

Forschung

„Generation Y“ – ein Vortrag von Cornelia Koppetsch

Veröffentlicht am
Edith Buchhalter 2014

Soziolog/innen werfen gerne mit typisierenden Begriffen um sich, wie die „Generation“, die „Gesellschaft“, der „Markt“, die „Babyboomer“ oder das „Emotionale“, Psycholog/innen stellen sich dabei gerne die Nackenhaare auf, man denkt schnell: wie undifferenziert und ohne individuellen Hintergrund. Spannend wird es, wenn die soziologischen Begriffe von einer Soziologieprofessorin mit einem Diplom in Psychologie empirisch gefüllt werden.

Cornelia Koppetsch ist bekannt für ihre Forschungen zur Entstehung des neuen Rechtsradikalismus, z.B. konstatiert sie die umfassenden kulturellen, politischen und sozialen Grenzöffnungen in der westlichen Gesellschaft als eine wesentliche Bedingung für das Entstehen radikaler Abschottungswünsche. An dieser Stelle empfehle ich aber einen Vortrag zur Generation Y, die von ihr in Abgrenzung zu den Babyboomern, also deren Elterngeneration, untersucht wurden.

Herausgefunden hat Cornelia Koppetsch „Figuren der Generation“. Es werden innerhalb einer Grundpolarität zwischen „Sich-Treiben-Lassen und dauernder Selbstoptimierung“ drei Themen beschrieben, anhand derer sich die Generation der Unter-Vierzigjährigen (ca. 1980 bis 1995 geboren) fassen lasse. Ein Aspekt ist, dass es oft darum geht, wie man bei den eigenen Entscheidungen die immer vorhandenen besseren Optionen nicht verpasst. Beim Entwerfen dieses eigenen optimalen Bildes ist diese Generation stark außengeleitet, im Gegensatz zu den 68ern und den Babyboomern, die (noch) einen inneren Kompass für ihre Entwicklung besitzen. Dabei kennzeichnend für die Yer sei die Methode des „Alles Offenhalten“. Beim nächsten Thema geht es um die Authentizität im Spätkapitalismus, das Emotionale wird zum Investititonsgebiet von Märkten, die Yer suchen Geld und Selbstverwirklichung zugleich, die Babyboomer dagegen sehen sich als leidenschaftlicher, haben Ideale, sind aber auch naiver und neigen zur Selbstausbeutung. Fragen von Solidarität und Zugehörigkeit sind der dritte Schwerpunkt der Generation, die Yer sind tendenziell Nesthocker (was bei den toleranten Babyboomern nicht schwer ist), sie sind zu 75 % mit ihren Eltern zufrieden und würden ihre Kinder ähnlich erziehen und sie sind aufgrund von eher schwachen sozialen Bindungen anderer Art stark an die Herkunftsfamilie gebunden. Die Babyboomer dagegen mussten gegen ihre Elterngeneration (Kriegskinder) kämpfen, um aus vorgegebenen Rollen herauszukommen und haben sehr häufig die Erfahrung einer kulturellen Entfernung von ihren Eltern gemacht.

Am Ende geht Koppetsch noch auf den Aufstieg der AFD ein, der für sie das Ende der Vorherrschaft des Neoliberalismus signalisiert. Diskutiert werden dabei die verfestigten ökonomischen Spaltungen, die Homogenität der Partnerwahl sowie dass Solidarität schwieriger zu realisieren ist, wenn Kultur kein „Baldachin“ mehr ist, sondern eine differenzierende oder auch segregierende Ressource.

Der Vortrag fächert die Ergebnisse der Untersuchung genau auf und es lohnt sich, ihn anzuhören. Die Beziehung zu den Eltern, zur Arbeit, das Entwerfen eines Selbstbildes, das Verhältnis zu Affekten sind Teilaspekte eine psychotherapeutischen Behandlung, auch kann man sich hier zeigen lassen, auf welche Art und Weise Soziolog/innen das Bild einer Generation entwerfen. Als Psychotherapeut/in ist es eine Erweiterung, sich die generationell unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen der Patient/innen vor Augen zu halten. Am wichtigsten aber war mir bei der Empfehlung, dass die Individuen durch soziologisches Wissen, wie es hier präsentiert wird, einen farbigen Hintergrund erhalten, der sie plastisch erscheinen und somit ihr Bild komplettiert wird.

Cornelia Koppetschs Vortrag wurde gehalten am 3. September 2018 in Berlin in der Heinrich-Böll-Stiftung unter dem Titel „Generation Y. Leben und Arbeiten zwischen Sinnsuche und Sicherheitsbegehren“. Er ist hier zu finden