In dem Buch zum Projekt habe ich so lange Sterbegeschichten gelesen und die Fotografien dazu angeschaut, bis mir die Tränen kamen und ich nicht weiterlesen konnte. In meiner psychotherapeutischen Praxis höre ich jeden Tag intensive Geschichten von psychisch erkrankten Menschen mit meist sehr belastenden Lebensgeschichten. Meine letzten Blogbeiträge zum Sterbeprozess haben mich sensibilisiert und auch abgehärtet. Dennoch war ich beim Lesen dieses Buches überraschend oft ergriffen und auf eine entleerende Art und Weise sehr belastet.
Nicht zum ersten Mal kam mir dabei der Gedanke, unsere derzeitige Gesellschaft könne es gut gebrauchen, dass Sterben öffentlich mehr Raum bekommt. Das Projekt „Noch mal Leben nach dem Tod“ von Walter Schels und Beate Lakotta (2004) ist Teil einer durchaus bemerkbaren Bewegung, die dazu beiträgt. In Form von Text und Fotografie, aber auch in dem Mut, sich dem Thema zu stellen und die Intensität der Begegnungen mit den Sterbenden offen zu beschreiben.
Walter Schels ist Fotograf und Beate Lakotta Journalistin. Gemeinsam haben sie Menschen im Hospiz besucht, vor und nach dem Tod fotografiert, viele Gespräche geführt und diese Begegnungen beschrieben. Texte und Fotografien ergänzen sich, ja benötigen sich gegenseitig. Durch die Worte können die Fotografien nicht mehr rein als ‚Artefakte‘ gesehen werden, die man hinsichtlich Lichtsetzung, Schärfe oder kulturhistorischen Kontext betrachten kann. Die Abbildungen dagegen sind für die Begleittexte eine Zuspitzung, sie bringen etwas auf den Punkt: Durch die Doppelportraits kann man den Übergang vom Leben zum Tod schmerzhaft erfahren. Dazu kommt die Intensität des Blicks der lebenden Portraitierten, man wird direkt und auch offensiv angeschaut, so als ob man von diesen Menschen im Bewusstsein des Todes herausfordernd gefragt wird: Und, wie geht es dir mit deinem Sterben? Als Gestorbene wiederum sind alle Fragen zu einem Ende gekommen, Augen und Mund sind verschlossen, sie sind schwarze Stellen im Foto. Ein seelisches Öffnen nach außen ist nicht mehr möglich. Und auch nicht mehr nötig, denn die individuelle Existenz ist in einen anderen, für uns unzugänglichen und hier sehr würdevoll wirkenden Zustand übergegangen.
In dieser Doppel-Präsentationsform mit Text und Fotografien, die im Buch besonders deutlich wird, werden viele Aspekte des Sterbens sichtbar gemacht. Als erstes: jedes Sterben ist individuell. Erzählt werden einige außergewöhnliche Lebensgeschichten und besondere Höhepunkte darin, wie das Reisen auf Deutschlands erstem Bananenschiff oder in Paris auf den Barrikaden gestanden zu haben. Aber auch in normal wirkenden Lebensgeschichten wird es möglich, durch die intime Begegnung die Besonderheit des jeweiligen Menschen hervorzuheben, damit das Individuum und sein Sterben unverwechselbar wird. Nicht unwichtig dafür sind die journalistisch protokollierten alltäglichen Ereignisse im Hospiz, die Auswahl des Trauerbriefpapiers, das Bier „mit nem schönen Blümchen drauf“ und die Bedeutung von Kartoffelpüree mit Sahne. Damit rücken die Menschen näher. Aber auch die Fotos tragen dazu bei, so wenn man die Hautbeschaffenheit des Gesichts sehr genau anschaut, als könne man im Vergleichen von Unreinheiten und Flecken ein Verständnis gewinnen, was da vor sich geht. Jeder Mensch bekommt hier viel Raum, und dazu braucht es nicht viele Seiten und nur jeweils zwei Fotografien, um das zu ermöglichen.
Für die Psychologin in mir möchte ich festhalten, dass das Projekt auch Anschauungsmaterial für Selbstwahrnehmung und -steuerung sowie für Beziehungsmuster ist. Das Buch läßt zum Beispiel Raum für den ausführlichen inneren Dialog der Ehefrau eines Sterbenden über ihren Kampf ums Loslassen. Sie zeigt kontrollierend-anklammerndes Verhalten und neigt zu Projektionen, erarbeitet sich dadurch aber den Spielraum, ihren eigenen Abschied zu gestalten. Irgendwann wechselt sie in der Zeitform des Verbs von Gegenwart zu Vergangenheit und gibt damit ihrem Loslassen eine äußere Form. Andere Umgangsformen sind Annehmen-können, sich zu fühlen als habe man in einem Kampf versagt, ins Bewußtlose sich fallen lassen, aber auch pure Angst, Humor und unerwartetes Näherrücken. Das Buch ist somit auch ein berührendes Lehrstück darüber, welche Bilder Menschen von sich selbst entwerfen und welche Formen von Bindung es zwischen Menschen gibt.
Erhellend war für mich auch das Interview des Fotojournalisten Damian Zimmermann, der Walter Schels die Art Fragen stellte, die zu einem offenen und persönlichen Gespräch führen. Darin zeigt sich Walter Schels als jemand, der um die individuellen Anteile seine Art der Annäherung an die fotografierten Menschen (und auch Tiere) weiß. Die Kamera konnte z.B. Annäherung an bewunderte Menschen ermöglichen, wozu er ohne sie zu selbstunsicher gewesen wäre. Ausführlich spricht er auch über die Serie ‚Noch mal leben‘: „Ich habe es gemacht, in der Hoffnung, Ängste und Albträume zu überwinden, die mich seit meiner Kindheit begleiteten – die ganzen Leichen, Särge, die ausgehobenen Gräber, die ich gesehen habe. Und es ist gelungen. Im Hospiz habe ich gelernt, Leichen anzufassen, was meine größte Angst war. Ich habe heute keine Angst mehr, wenn ich einen Sarg sehe. Ein Riesenerfolg. Aber das soll nicht heißen, dass ich keine Angst mehr vor dem Tod habe. Dafür habe ich noch zu viel vor.“
Die Website zum Projekt findet sich hier, wo man auch das Buch bestellen kann und hier findet sich das Interview von Damian Zimmermann mit Walter Schels.
Ergänzend möchte ich auf den Podcast „endlich. Wir reden über den Tod“ hinweisen, in dem monatlich zwei junge Frauen, Susann und Caro, mit einem Gast über den Tod sprechen. Themen sind Trauer in Beziehungen, Trauer um Tiere, Leben mit einer tödlichen Krankheit oder Bücher zum Thema Tod. Der Podcast folgt in der Form bekannten Vorbildern, aber findet eine überraschende Leichtigkeit trotz oder gerade wegen persönlicher Erfahrungen der beiden Autorinnen mit dem Sterben.