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„Shame“ – ein Film von Steve McQueen

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© See Saw Films 2011

Für seinen zweiten Spielfilm „Shame“ hat Steve McQueen, ein anerkannter britischer Künstler (u.a. Turner Prize), sexsüchtige Männer befragt und diese Erfahrung in eine dichte filmische Studie transformiert. Erzählt wird von einem von sexuellen Lüsten getriebenen Mann, Brandon, attraktiv und erfolgreich, aber ohne erfüllende Liebesbeziehung. Unter seinem kühlen Netz an Kontrollmaßnahmen wie Sauberkeit, Ordnung, Erfolg, manipulierendes Verhalten im Job, Fernhalten der Schwester und sexueller Befriedigung durch Geld/Macht spürt man im Laufe des Films immer mehr die dahinter liegende Verzweiflung. Parallel und kontrastierend wird gezeigt, wie seine Schwester Sissy bei gleichen familiären Bedingungen einen anderen Weg genommen hat. Aus ihrer ständig schwelenden Sehnsucht heraus geht sie schnell Bindungen ein, gerät dabei oft an Männer, die ihr schaden und kann sich nur sehr schwer und quälend daraus lösen. Sissy taucht im Leben ihres Bruders auf und erschüttert seine massive Abwehr gegen jegliche Offenheit und gegenseitige Abhängigkeit. Sie braucht ihn und zeigt dies sehr deutlich, er fühlt sich ihr im Inneren verbunden und möchte aus seinem Bewältigungssystem ausbrechen. Dies gelingt ihm zwar nicht, in seinem Scheitern aber entsteht die Chance, in einen tieferen Kontakt zu ihr und anderen Menschen zu treten.

Verdichtet zeigt die Szene in der Bar die unterschiedlichen Lebens- und Bewältigungweisen der Geschwister.. Als Sissy eine gedehnte und sensible Interpretation von „New York, New York“ singt, voller Vereinigungswünsche, kann man in Brandons Gesicht undeutlich eine Träne entdecken. Als sein Begleiter dies bemerkt und in Worte fasst, wehrt Brandon ab und bald darauf wirft er Sissy aus seiner Wohnung, als sie mit seinem Chef ins Bett geht. Man könnte meinen, seine Abwehr von Mitempfinden sei gelungen, aber bald darauf verabredet er sich mit einer Kollegin zu einem Restaurantbesuch, ein Versuch, sich einem Liebesobjekt auf eine andere Art zu nähern als bisher von ihm praktiziert.

In der anderen wichtigen Szene, nach einer obsessiven Reise durch nächtliches sexuelles Ausleben, kämpft Brandon sich zu einem Orgasmus. Es wird nur sein Gesicht gezeigt, auf dem sich Angst, Verzweiflung, Fragen und krampfhaftes Weglaufen-Wollen mischen. Die Augen blicken direkt in die Kamera und der Zuschauer schwankt zwischen Abscheu , Faszination und Mitfühlen. Als die Kamera sich langsam bewegt und Brandons Blick der Kamera folgt, entsteht ein kurzer Moment des Gesehenwerdens vom Protagonisten, ein Wechsel der Positionen, ein Durchbrechen der vierten Wand, wodurch der Schmerz auch für den Zuschauer körperlich erfahrbar wird. In der Folge rettet Brandons seine Schwester nach einem Suizidversuch in seiner Wohnung, eine Annäherung erscheint möglich.

Steve McQueens Film spielt oft auf andere Filme an und er wählt akzentuierte, manchmal manieriert wirkende Farbgestaltung. Das künstlerische Hauptthema ist der Kontrast zweier Ebenen: Lieben und Darüberreden, oder anders gesagt komplexe, destruktive Beziehungsmuster und gesprochene, Kommunikation ermöglichende Worte. Sexuelle Handlungen, Besessenheiten, Kontrolle, Zwang und Selbstverletzung werden auf untergründige Zusammenhänge hin zerlegt. Zutage tritt, dass man eigene und die Wünsche anderer nicht völlig kontrollieren kann, also die leidvolle Erfahrung des Verfehlens von Perfektion. Oder dass totale Unabhängigkeit auf dem Feld der menschlichen Beziehungen Verluste mit sich bringt, andersherum dass Nähe mit Abhängigkeit einhergeht. Zuschreibungen, wann etwas krank ist und wann nicht, werden hier hinterfragt und es gibt auch keine ätiologische Sichtweise, also keine Angebote, wie man aus der Kindheit heraus verstehen könnte, wie sich die beiden Hauptpersonen entwickelt haben. Aus der Lebensgeschichte gibt es nur zwei Informationen: New Jersey, und Sissys Satz: We’re not bad people, we just come from a bad place.

Das im Film behandelte Thema ist schwer und schambesetzt. Dies könnte ein Grund sein für die manchmal artifziell anmutende Gestaltung des Films. Es gibt Wortbilder wie in der Szene mit der Prostituierten, die den „hook“ ihres BHs nicht schließen kann, Brandon bietet Hilfe an, und sie sagt: „It’s just the hook“, oder auch Verwendung von Spiegelungen, Verschachteln von Zeitebenen, deutliche Kalt-Warm-Farbgestaltung, Zweidrittelung der Einstellungen und ein unscharfer Kinder-Animationsfilm im Hintergrund. Künstlich wirkende Formen können erlebtermaßen rettend sein, sie zerspringen nicht, lösen sich nicht auf und werden nicht allzu hässlich. Ebenso sind filmische Zitate Haltepunkte in dem seelischen Strudel zwischen obsessiver Machtausübung und Kontrollverlust: die Goldbergvariationen verweisen auf Hannibal Lecter, die nächtlichen Fenster auf Hitchcocks Film „The Rear Window“, Brandons Appartement auf „American Psycho“und sein nächtliches Joggen auf Dustin Hoffmann in „Marathon Man“.

Selbstreflektion bezüglich des Themas lässt sich ebenfalls finden, so wenn Sprechen und Worte explizit thematisiert werden. Brandon datet Marianne in einem Restaurant, der Kellner taucht auf und bespricht die Bestellung, die beiden aber müssen aber erst einmal ihre Worte finden. Begleitet wird dies von untergründiger Erregung, Zögern, Hoffen, Amüsiertheit und vorsichtigem Öffnen. Worte sind belanglos, der Kellner und das Paar sagen das, was man halt so sagt, darunter aber spürt man Spannungen, das Eigentliche, der Tanz des Annäherns. Ähnliches findet sich in dem Gespräch zwischen Brandon und Sissy, in dem er darüber spricht, wie sie Männerbeziehungen gestaltet und ihr aufzeigt, wie sie ihn manipulieren möchte, sie aber glaubhaft dagegen spricht. „Es wäre doch traurig, wenn du nichts mehr von mir hörst“, sagt sie, zugleich aber ist die Andeutung ihrer vollständigen Abwesenheit wieder ein Versuch ihn zu beeinflussen.

Zusammengefasst ist der Film eine intensive Fallstudie, klinisch gesehen geht es um abhängige/zwanghafte/emotional instabile Persönlichkeitsstrukturanteile, gesteigertes sexuelles Verlangen, Kontrolle/Abhängigkeit und Verwobenheit von Nähe und Abhängigkeit.

„Shame“, 2011, kann man bei Netflix streamen, bei Amazon findet man: „Marathon Man“, John Schlesinger 1976, „The Silence of the Lambs“, Jonathan Demme, 1991, „Rear Window“, Alfred Hitchcock, 1954, „American Psycho“, Mary Harron, 2000

Andreas Kilb in seiner Rezension hätte gerne mehr Erklärungen, Katja Nicodemus dagegen spürt die Verzweiflung.