„Sex Education“ – eine Netflix-Serie von Laurie Nunn
Veröffentlicht amMit welchen Themen man sich „richtig lebendig“ fühlt, hängt sicherlich auch davon ab, wie alt man gerade ist. Humor und Sex stehen allerdings meist in jedem Lebensabschnitt ganz oben auf der Liste, egal was gerade bewältigt werden will. So kann die britische Serie „Sex Education“ den verschiedensten Altersstufen Freude bereiten, auch wenn sie wie eine Teenager-Komödie konzipiert ist. Zur Empfehlung hat sie es bei mir gebracht, weil sie ohne Abwertungen und ohne allzu flachen Humor Sex-Probleme von Jugendlichen klar und deutlich thematisiert, Lösungen vorschlägt, ausprobiert und verwirft und man sich dabei auch noch gut unterhalten fühlt.
Otis ist ein Außenseiter in der Oberstufe, er kämpft zu Beginn der Serie mit dem Problem nicht onanieren zu können und als Sahnehäubchen ist seine Mutter eine alleinerziehende Sextherapeutin mit Bindungsängsten. Otis‘ Interesse an Statushebung bringt ihn eher zufällig mit der sexuell erfahrenen Maeve zusammen, die immer Geld braucht, da sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen muss. Gemeinsam bieten sie Sexberatung gegen Geld an, da alle um sie herum ständig in sexuellen Problemen stecken, aber Wissen und Erfahrung oft fehlen. Auf diese Art können eine Reihe an Themen wie Potenzprobleme, Homophobie, Massenhysterie bei Chlamydieninfektionen, sexuelle Belästigung, Onanieren, Vaginismus und andere vorgeführt und auf eine unpädagogische Art durchdrungen werden.
Man kann zum Beispiel miterleben, wie es einem Paar ergeht, wenn sie nur Sex im Dunkeln haben kann: beide fallen aus dem Bett und verletzen sich. Auf einer Party trifft Otis zufällig in einem Badezimmer auf die beiden, und kann etwas Wichtiges herausbekommen: Sie meint, er fände sie nicht attraktiv. Otis hat zunächst wie alle Berater und Therapeuten mit Widerständen zu kämpfen, kann aber den beiden, während sie Rücken an Rücken sitzen, herauslocken, was er an ihr und sie an sich mag. Dabei gibt Otis Anleitung, ermuntert aber auch zu eigenen Worten und hält offene Momente offen – tatsächlich scheint er etwas von einer Mutter gelernt zu haben. Das Paar geht gestärkt aus dem Gespräch heraus, sie trauen sich etwas zu, was aber ebenso für Otis zutrifft, der zu einer neuen Rolle findet.
Ein weiterer „Fall“ ist ein vorgespielter Orgasmus bei dem machohaft auftretenden Adam, Sohn des strengen Rektors, der seine Erektions- und Ejakulationsprobleme vor seiner Freundin Aimee verbirgt, aber mit übermäßigem Viagrakonsum eine Lösung versucht. Sein angeschwollener Penis spielt auf Hollywoodkömodien an, aber anders als in diesen sucht er das Gespräch mit Otis. Der jugendliche „Sextherapeut“ macht vieles richtig, fragt nach dem Leben als Rektorssohn, gibt Adams Problem einen Namen (performance anxiety), benennt den Druck, der von dem Schulmythos seines riesigen Penis ausgeht und gibt ihm eine Formel an die Hand. Own your narrative, frei übersetzt: Nimm selbst in die Hand, wie über dich gesprochen wird! Als typisch für die Machart der Serie und auch als Anzeichen für die Realitätsnähe kann Adam nun zwar zu seinem Geschlechtsteil stehen (sogar nackt und öffentlich), aber ein neues Problem tut sich auf, denn sein wiedergewonnener Orgasmus führt dazu, dass seine Freundin mit ihm Schluss macht. Ihre Annahme, dass sie verantwortlich für seine Probleme war, also ihn zum Glück bringen musste, hielt sie in der Beziehung. Seine vermeintliche Stärke und ihre Unfähigkeitsgefühle ergänzten sich, sie konnte ihre inneren Selbstabwertung bestärken und er konnte seinen inneren Druck lange von sich fernhalten. Auserzählt wird dies alles nicht, aber es wird pointiert, manchmal zugespitzt inszeniert, und die Komplexität darin wird nicht vernachlässigt.
Im Jahr 2021 gibt es im westlichen Kulturkreis Informationen zur Sexualität auf vielen Wegen, manchmal mehr als man konsumieren kann. Speziell für Jugendliche ist vieles immer früher erreichbar, eine Studie von 2017 nennt als Durchschnittsalter für den Erstkontakt mit Pornos 12,8 Jahre an, gleichzeitig gibt es für die Jugendlichen oft keine Möglichkeiten, das Gesehene einzuordnen. 50 % der Erstkontakte mit Pornos im Internet seien ungewollt, über Zufallsfunde oder von Freunden gezeigt, und das Reden über die eigene Sexualität sei unter vielen Jugendlichen immer noch ein Tabuthema.
„Sex Education“ tritt nicht mit dem Anspruch auf, dies ändern zu wollen, aber Potential etwas dazu beizutragen hat sie. In inzwischen zwei Staffeln mit je acht Episoden werden die vielfältigsten sexuellen Themen und Probleme Jugendlicher im Alter von 16 Jahren mit Humor und zugleich Wohlwollen vorgeführt und mit Lösungsangeboten versehen, meist ohne pädagogischen Zeigefinger. Dabei kommen die unterschiedlichsten Themen vor, aber immer wird gezeigt, dass die Basis für sexuelle Probleme in den Beziehungen der Beteiligten untereinander und zu ihrem Umfeld liegt. Hier ist der Ansatzpunkt für Veränderung, aber es wird daraus nicht gefolgert, sexuelle Dinge nicht direkt anzugehen, denn auch dafür bietet die Serie ausreichend Handhabe.
Die verwendeten Gestaltungsmittel der Serie sind für eine Comedy-Serie unerwartet vielschichtig. Es geschieht zum Beispiel eine Verdoppelung der jugendlichen Verstrickungen bei den erwachsenen Paaren, so dass man sich viele Themen mit anderen Komplikationen 30 Jahre später anschauen kann. Dies zeigt auch eine wichtige Dimension der sexuellen Entwicklung Jugendlicher: Sie findet nie ohne Erwachsene statt. Die Teenager tragen in sich teilweise Identifizierungen mit ihren Eltern oder anderer Bezugspersonen, aber wollen vieles anders machen, sie schauen genau hin, oder wenden sich peinlich berührt ab, aber ohne sie geht es nicht. Die Verortung des Geschehens ist zwar zeitlos, der Soundtrack schöpft allerdings aus dem Besten, was die Siebziger zu bieten haben und weist damit auf den sexuelle Befreiungsmythos dieser Ära hin, der allerdings leerlaufen musste, da jede Generation sich unter dem Einfluss der Vorläufer entwicklen muss.
Symbolisch kommt in der Figur Otis vieles zusammen, was junge Menschen in diesem Alter heutzutage charakterisiert: Sie sind unsicher, zaghaft, gehemmt, eckig, verwirrt unter dem Eindruck der hormonellen Reifung und zugleich verfügen sie über Zugang zu einem großen Repertoire an Wissen über seelische Symptome, Krankheiten, Sex und Beziehungsmustern. Dass dabei einiges Wissen nur scheinbar ist, und dahinter Unsicherheiten und unbewusste Konflikte stecken, ist etwas, das in der psychotherapeutischen Praxis nicht unbekannt ist.
„Sex Education“ ist eine Netflix-Serie von 2019, die erste Staffel wurde allgemein gelobt, die zweite leidet etwas unter den Ansprüchen des Erfolges, und bald soll es eine dritte geben. Auf jeden Fall wird man mit Witz in die eigene Jugendzeit versetzt und bekommt dabei ein Gespür dafür wie es heute ist, Teenager zu sein, auch lernt man etwas darüber, wie man über Sex sprechen kann, und manche Information mag auch für Erwachsene neu sein. Die Studie zum Erstkontakt Jugendlicher mit Pornographie im Internet findet man hier.