Filme und Serien

„La Mala Educación“ – ein Film von Pedro Almodovar

Veröffentlicht am
©️El Deseo 2004

Kann man das Thema Missbrauch von Kindern durch katholische Priester in einem Film angemessen darstellen? Kann ein Film Zuschauern dieses Phänomen näherbringen, in all seiner Brisanz? Ein durchaus gelungener Versuch dazu ist Pedro Almodovars „La Mala Educación“, der mit Hilfe von verschachtelten Zeitebenen und irritierender Auflösung von Identitäten und Erinnerungen die Wirkung von Missbrauch in der Kindheit filmisch verarbeitet.

Erzählt wird die Geschichte von Ignacio, der im Internat von seinem Lehrer, Pater Manolo, sexuell missbraucht wird. Einige Jahre später, transgender lebend und drogenabhängig, erpresst er den inzwischen verheirateten Pater, um seine Situation zu verändern. Er wird von ihm getötet, da dieser Ignacios jüngeren Bruder Juan begehrt, der wiederum Pater Manolo für den Mord an seinem Bruder benutzt hat. Juan wiederum sucht einige Jahre später den Regisseur Enrique auf, einen Freund Ignacios, der damals aus dem Internat geworfen wurde, obwohl Ignacio, begehrt von Pater Manolo, seinen Körper zur Verfügung stellte, damit Enrique bleiben konnte. Juan möchte Schauspieler werden und bietet Enrique – sich als Ignacio ausgebend – dessen Erzählung „Der Besuch“ an, die Ignacios Geschichte erzählt. Enrique dreht den Film mit ihm und geht eine sexuelle Beziehung mit ihm ein, wissend, das es Juan ist und nicht Ignacio, Juan wiederum weiß, dass Enrique seine wahre Identität kennt. Nach dem Dreh der letzten Szene (der Mord an Ignacio) erscheint der Pater und erzählt Enrique von dem gemeinsamen realen Mord an Ignacio, woraufhin dieser Juan aus seinem Leben wirft. 

Was sich wie eine verwickelte Kriminalgeschichte liest, ist im Film manchmal anrührend und betroffen machend, manchmal plakativ und farbenfroh, manchmal aber auch messerscharf sezierend, wenn es um die Auswirkungen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit geht. Der Film verweigert sich dem direkten Verständnis, zumal mit Doppelbesetzung gearbeitet wird, mit Film im Film und Erzählung im Film, mit Andeutungen, verschwimmenden Erinnerungen und schwelgenden, überzeichnet wirkenden Szenen. Allmählich erst bekommt man einen Faden in die Hand, man wendet sich den Schicksalen der Beteiligten zu, entwickelt Sympathien und Betroffenheiten, nur um dann wieder zu spüren, dass sich wenig intime Nähe zwischen den Beteiligten einstellt, dass Beziehungen dazu dienen, die eigenen Ziele und Begehrlichkeiten durchzusetzen und dass sich viele Szenen schön, aber leer anfühlen.

Dabei ist der emotionale Kern des Films weder die Schuldfrage, noch die Verurteilung der katholischen Kirche oder womöglich eine autobiographische Aufarbeitung. Es ist die berührende Frage: Wie überlebt man es, von einem Erwachsenen zum Objekt des Begehrens gemacht worden zu sein? Der Film zeigt die ganze Bandbreite der Toxizität von benutzenden Beziehungen: wie sich Ignacio abhängig macht von seinen körperlichen Bedingungen, wie er sich in der Sucht selbst zerstört, wie er sich durch das Aufschreiben seiner Geschichte befreien kann und doch wieder durch das eigene Erpressen in einen Teufelskreis gerät. Wie sich der jüngere Bruder Juan missbraucht fühlt von Ignacios Problemen, ihn aber auch imitiert (eine Vaterfigur scheint zu fehlen) und andere Menschen noch konsequenter als Ignacio für seine Zwecke benutzt, den Pater zum Mörder macht und Enrique zum Regisseur seines Erfolgsfilms. Wie der Pater unbeirrbar sein Beziehungsmodell von abhängiger und zugleich dominierender Lust auslebt, nicht gestoppt werden kann, in Gang gesetzte Veränderungen sich nicht aneignet und damit weiter auf seiner toxischen Linie bleibt. Wie sich Enrique als Regisseur zwar produktiv betätigt, aber aus der unschuldigen Schuld, dass sich Ignacio für ihn geopfert hat, nicht befreien kann. Und wie Enrique Juan benutzt für sein „Zerschneiden“, sein neugieriges Sezieren und filmisches Montieren von Menschen und Gefühlen, und ihn am Ende fallen läßt.

Aber auch Nicht-Toxisches spielt eine große Rolle. Das Kino bietet sich als ein Gegenentwurf zur Kirche an, es zieht einen in den Bann, bietet Versammlungsrituale, stellt menschliche Verwirrungen und Dramen dar, kurzum es ist ein magischer Ort – und für Enrique sogar ein schöpferischer. Dazu lädt viel Sorgfalt und schwelgerische Lust in der Ausstattung der einzelnen Szenen zum Genießen ein, und die sanfte, liebevoll-erotische Darstellung von Juan-Ignacio-Zahara lässt Respekt und Zuneigung spüren. Es ist als gebe der Film kleine atmosphärische und szenische Hinweise, wie man den kindlichen Missbrauch ohne manipulative oder tödlich endende Beziehungen überleben kann.

Erlebter Missbrauch setzt in der Seele ganz bestimmte Abwehrmechanismen in Gang, die auch im Film zu sehen sind: Erinnerungen verlieren sich, werden aufgeladen, überblendet, verdrängt und geleugnet. Zuschauend ist man irritiert, was Realität, Film, Erinnerung oder Phantasie ist, und erlebt so das, was womit viele Opfer zu kämpfen haben. Sowohl inhaltlich (manipulative Beziehungen) als auch formal (Dissoziationen, Leugnen, Derealisationsphänomene) bildet der Film Aspekte des Themas nach einschließlich der Möglichkeiten des Auswegs in Kreativität und Sanftheit.

Es sei kein autobiographischer Film, meint der Regisseur Almodovar, auch die Kritik an der katholischen Kirche sei kein zentrales Thema, und die Sexualität des Täters, ein Pater und Lehrer eines Knabeninternats, werde nicht verurteilt. Diese Haltung des Regisseurs merkt man dem Film an und sie macht den Zugang leichter. Die intensiven Bilder, die Almodovar findet, führen aber auch bei Kritikern zu bemerkenswert unreflektierten Äußerungen, wie bei Fritz Göttler, der 2010 in seiner Besprechung das Muster des unschuldigen Verführers (der Knabe Ignacio) bemüht, das endgültig nicht mehr herangezogen werden sollte zum Verstehen von Kindesmissbrauch.

„La Mala Educación“ (2004) findet man bei Amazon, Fritz Göttler problematische Besprechung In der Süddeutschen Zeitung, lesenswert ist auch der Beitrag zum Film im Blog „Talkingaboutsexualtrauma“ sowie Oliver Hüttmanns begeisterte und ausführliche Rezension von 2004 im Spiegel. Er räumt zwar dem Missbrauch nicht viel Raum ein, aber die vielen Ebenen des Films werden genau nachgezeichnet und mit der Metapher der „schwarzen Rose mit sinnlichem und verstörenden Duft“ treffend zusammengefasst.