Forschung

„Krankheit – das Fehlen von Gesundheit“ – ein Vortrag von Dirk Lanzerath

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©️Pernak Wikicommons

Kann eine Begriffsklärung durch einen Philosophieprofessor für die psychotherapeutische Tätigkeit gewinnbringend sein? Oder ist es in dieser Tätigkeit nicht eher hinderlich, sich konsequent „nur denkend“ einem Gegenstand zu nähern? Und bieten die Störungsmodelle der psychologischen Theorien nicht ausreichend Diskussionsgrundlage für das Thema, was denn eigentlich Krankheit sei?

Dirk Lanzerath geht in seinem Vortrag von einer philosophischen Haltung aus, die nicht rein argumentierend verfährt, sondern er stellt den Husserlschen Begriff des lebensweltlichen Zugangs an den Anfang. Damit setzt er eine subjektbezogene Einheit von Ich und Welt an den Anfang, in der vortheoretisch und unhinterfragt natürliche Einstellungen beschrieben werden und insbesondere das Ich nicht systematisch ausgeklammert wird. Die naturwissenschaftlich arbeitende Medizin dagegen laufe Gefahr, das Teil, also ihre an Daten und Fragmentierungen orientierten Ergebnisse, als das Ganze, also die Lebenswelt ihrer Patienten, anzusehen. Die Überführung von wissenschaftlichem Wissen in Lebenswelten hält Lanzerath für ein zentrales Thema, und dies ist nur möglich, wenn sowohl das Erleben des Kranken als auch die Kommunikation zwischen Arzt und Patient stärker in den Fokus rücken. 

Was mich zur Empfehlung des Vortrags brachte, ist Lanzeraths Ausdrucksweise, die ein unmittelbares Verstehen möglich macht. Man denkt – erneut – über das Thema der Pathologisierung der Trauer nach durch die Klassifikation als behandlungswürdige Krankheit, wenn sie mehr als zwei Wochen andauert. Oder über das mit großem Leiden verbundene Problem, das sich unter der Diagnose ADHS verbirgt, das aber wissenschaftlich fragmentiert wird und getrennt biochemisch, systemisch, tiefenpsychologisch und schulpolitisch behandelt wird. Auch die Gesundheitsökonomie und das Denken in statistischen Modellen werden befragt und in ihren ethischen Konsequenzen diskutiert.

Entsprechend seiner phänomenologischen Herangehensweise vertieft Lanzerath seine Thesen an einem Beispiel. Die Mitteilung von belastenden Labordaten durch Ärzte an Patienten könnten nur dann erfolgreich in deren Lebenswelten integriert werden, wenn auch beim Behandelnden eine Beschäftigung mit dem Krankheitsbegriff stattfinde. Krankheit mache spürbar, dass man mit seinem Körper identisch ist und zugleich von ihm wie von außen bestimmt werde, er sei weder ausschließlich Person noch Sache. Die Unsicherheit der gesamten Welt, deren Teil wir sind, werde erfahrbar, und auch als Gesunder rücke Verwundbarkeit und Sterblichkeit nahe, wenn man mit Kranken zu tun habe. Es wird hier ein Krankheitsbegriff als praktischer Handlungsbegriff vorgeschlagen, bei dem das, was der Patient mitteilt, wesentlich zur Konstituierung der Krankheit dazugehöre und der Arzt bei der Umsetzung des Krankheitsbegriff in die Lebenswelten des Patienten behilflich sein solle.

Ein anregender Vortrag, der seine Verortung in der Ethik nicht verbirgt und zu grundsätzlichen Gedanken über unser Krankheitsverständnis anregen kann, insbesondere wie wir in unserer speziellen Situation als PsychotherapeutInnen das individuelle Krankheitserleben mitgestalten. Wir suchen in einem gemeinsamen Prozess Worte und Geschichten, in denen der lebensweltliche Zustand von Kranksein gefasst wird, wir verwenden und erproben sie im Übergangsraum der Sitzungen und initiieren damit Handlungen, die mit Veränderungen einhergehen können. Bei diesem Vorgehen sich ethisch zu hinterfragen und zu einer Position zu kommen, sehe ich insbesondere in der aktuellen gesellschaftlichen Situation als sehr hilfreich an.

Prof. Dr. Dirk Lanzerath ist Philosophieprofessor, Geschäftsführer des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften sowie Mitglied der Ethikkommission der Bundesärztekammer. Sein Vortrag wurde am 28.01.2020 in Berlin gehalten im Rahmen  des Symposiums „Verständnis(se) von Gesundheit“ der Berlin-Brandeburgischen Akademie der Wissenschaften, zu finden bei DLF Nova.