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„Charlie Says“ – ein Film von Mary Harron

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©️IMDb 2018

Im Alltag ist mir ab und an die Frage nach dem Bösen begegnet, ob es existiert, woher es kommt, wie ihm beizukommen ist. Und ob man überhaupt vernünftigerweise danach fragen kann, in einem westlichen Land, im Jahre 2021. Wissen nicht alle, dass es eine moralische Kategorie ist, die religiösen Ursprungs ist, und dass man mit der Frage danach den Tendenzen zu Ursachenidentifizierung Vorschub leistet, die eventuell mit Erschauern ob des Göttlich-Bösen einhergehen? Aber wie nähert man sich als „böse“ bezeichneten Phänomenen, ohne in solchen Kategorien zu verbleiben? Und ist dies mit filmischen Mitteln möglich?

Im Film „Charlie Says“ (2018) geht es um die Tate-LaBianca-Morde durch die Manson Family in Kalifornien 1969. Die zwei Kraftzentren des Films sind Charles Manson (Matt Smith), der eine Gruppe junger Menschen dazu brachte, sieben Morde zu begehen und als Gegenpart Karlene Faith (Merritt Wever), damals Lehrerin und Menschenrechtsaktivistin, später Professorin, die drei verurteilte junge Frauen aus der Manson-Gruppe im Gefängnis unterrichtete und später über die dabei gewonnenen Erkenntnisse ein Buch schrieb. Abwechselnd wird im Film der Weg der Manson-Gruppe hin zu den Morden und die Annäherung zwischen Karlene und den drei Frauen im Gefängnis gezeigt. Der Film ist gründlich recherchiert und wagt eine Darstellung, in der Charles Manson mit seinen manipulativen Fähigkeiten zwar stark in den Vordergrund rückt, den inneren Welten der jungen Frauen aber ebenfalls genau nachgespürt wird. Und er befragt nicht die Lebensgeschichte und Persönlichkeit der drei Frauen auf Ursachen hin, sondern indem er genau dies weglässt, zeigt er das Bedingungsgefüge grenzüberschreitender Gewalt als ein systemimmanentes Geschehen.

Als eine dieser Bedingungen wird gezeigt, dass in der Mansongruppe grundlegende Vorgehensweise christlicher Religionsgemeinschaften verwendet werden, fest verankert in der Gruppe und von Neuankömmlingen sicherlich als kulturell sehr vertraut wahrgenommen (USA der Sechziger Jahre). Es findet ein Initiationsritus statt, ein neuer Name wird verliehen, die Außenwelt mit Nachrichten, Büchern (außer der Bibel) und kritischen Fragen wird abgeschnitten, die Vergangenheit lässt man hinter sich, eine Art Hostien werden verteilt und die Gruppe nimmt gemeinsam an der Geburt von Manson Sohn teil. 

Als Kontrast zu dieser quasireligiösen Struktur wird viel entgrenzte Körperlichkeit gezeigt. Es gibt exzessives Berühren, ekstatisches Wahrnehmen dieser Berührungen und das nachfolgende Auffangen durch die Gruppe, bis hin zu Momenten, in denen alle alle anderen anfassen. Durch die Verwendung der körperlichen Ebene findet eine höchst wirkungsvolle und erregende Grenzauflösung statt, die man als Ent-Individualisierung bezeichnen kann. Ebenfalls zur Auflösung der Grenzen erlebter Individualität trägt bei, dass sich feste Regeln mit nicht geregelten Bereichen des Lebens abwechseln, wobei rätselhaft bleibt, was wann seine Gültigkeit hat. Dadurch verbleibt man in einem andauernden Zustand der Ungewissheit und Beunruhigung, was man wann machen darf, was sanktioniert wird und worauf man sich verlassen kann. 

Ent-Individualisierung wird gezeigt als etwas, das beunruhigend ist und zur Suche nach etwas führt, das einem neuen Halt geben kann. Der Film zeigt dazu das Vorhandenseins einer Art Pseudotheorie mit Erklärungen über die Ereignisse in der Welt, mit Fremdwörtern, scheinbaren Zusammenhängen und einer Zukunftsvision. Wenn etwas Ungewohntes geschieht, zum Beispiel heftige Krämpfe bei einem Orgasmus, wird eine Formel angeboten: “So stirbt dein Ego“, und ein unbekanntes und schwer greifbares Erlebnis wird in eine verständliche Form gebracht.

Ähnlich stabilisierend ist auch das ständige Gitarrenspiel von Manson, überall hörbar, in der Wirkung einem Mantra ähnelnd. Es kann sich als  Untergrund in die seelische Struktur festsetzen und verhindert, dass man etwas erlebt und denkt, das sich auf etwas anders als das Mantra bezieht. Ähnlich der Meditation, die unter anderen Bedingungen und Rahmen durchgeführt wird und daher anders gelagerte Ergebnisse erbringt, bindet das Gitarrenspiel alle innere Bewegung an sich. Es wird aber nicht wie in der Meditation ein Rückführen in einen befreienden Zustand angestrebt, sondern es wird permanent an Charles Manson erinnert, der die Personifizierung der Gruppengesetze ist.

In dieser Spannung zwischen Ent-Individualisierung und Angeboten zum Neu-Erfinden bindet das übermäßige Großartigkeitsgefühl von Charles Manson die anderen Gruppenmitglieder aneinander. Dies wird besonders deutlich, wenn eine Gefährdung dieses Ideals auftritt. Ein auf die Ranch eingeladener Musikproduzent bietet Manson keinen Plattenvertrag an, ja er behandelt ihn herablassend. Der Produzent steht stellvertretend für die Außenwelt, die die Selbst-Erhöhung der Glaubensgemeinschaft abwertend behandelt, starke Risse im Gruppengebäude entstehen und fordern stärkere „Reparaturen“. Das Sicherungssystem für die Idealisierung ist schon immer kraftaufwändig gewesen, die aktuellen Maßnahmen brauchen nun mehr Energie, mehr Libido, mehr Gewalt, dadurch steigert sich die Bedeutung der Gruppenbindung und auch des Einsatzes, und die, die den Einsatz erbringen müssen, fühlen sich stärker an etwas Großartigem beteiligt.

Die die Grenzen des Individuums ersetzenden Bindungskräfte der idealen Gruppe sind bei den drei inhaftierten Frauen auf so fruchtbaren Boden gefallen, dass noch Jahre später der für sie nicht mehr real vorhandene Charles Manson das Zentrum der inneren Struktur darstellt. Er lebt weiter in ihnen und dadurch mit ihnen und sie richten sich nach ihm aus. Karlene, die Lehrerin im Gefängnis, ist die Figur, die stellvertretend die Fassungslosigkeit der Zuschauer zeigt, in Mimik und in kurzen Gesprächen. Ihr „Unterricht“ mit den drei Frauen ähnelt der Erziehungsarbeit mit Vorschulkindern, denen behutsam etwas von der Welt draußen erzählt wird und deren moralische Grenzen noch entwickelt werden müssen. Dabei stößt Karlene an die Grenzen der implantierten Glaubensgemeinschaft, ist sich aber auch im Klaren darüber, dass eine Befragung der Gruppenstruktur eine große Erschütterung sein kann. Die Dimension der begangenen Taten zu erfassen könnte eine lebenslange Hölle der Schuld eröffnen, was wiederum die Kraft verständlich macht, mit der lange am Gebäude festgehalten wird. Karlene begibt sich in diesen mühsamen Prozess mit unterschiedlichen Ergebnissen und ist im Film damit das Gegenbild zur Selbst-Erhöhung in der Gruppenbindung.

„Charlie Says“ regt an, sich über Prozesse der Gruppenbeeinflussung Gedanken zu machen, und sich zu den gezeigten Bilden zu positionieren. Man kann die realen Ereignisse nachrecherchieren, oder auch zu den aktuellen wissenschaftlichen Konzepten der Selbstpsychologie zur frühen Entwicklung nachlesen. Der Zusammenhang von Gewalt und Sexualität ist in meinem Beitrag zu kurz gekommen, könnte aber ein eigenes Essay füllen. Auch Farbgestaltung und Raumwirkung als filmische Mittel wären erwähnenswert, der Begriff des Charismas könnte psychologisch analysiert werden, das Bild des Rattenfängers taucht auf und die angedeutete Wirkung der Aufbruchsstimmung der Sechziger ist historisch interessant. 

Quentin Tarantinos Film „Once upon a Time in Hollywood“, ebenfalls von 2019, nutzt die Morde eher als Vorlage, um in seinem Film doch noch Gewaltbilder unterzubringen und in der zweiten Staffel (Folge 6) der sehenswerten Netflix-Serie „Mindhunter“ wird Charles Manson von einem FBI-Profiler verhört und eine ganz andere Lesart der Schuldfrage wird angedeutet. 

„Charlie Says“ (2018) findet man z.B. auf Amazon Prime, Mary Harron ist auch die Regisseurin von „American Psycho“ (2000), einer Romanverfilmung, in der es um einen gefühlskalten Serienmörder (Christian Bale) geht (Amazon Prime oder Netflix). Merritt Wever spielte die einfühlsame Polizistin in der Serie „Unbelievable“ (Netflix 2019), in der es um die Aufarbeitung einer Vergewaltigung geht. „Mindhunter“ (ab 2017, Netflix) von Joe Penhall behandelt den Beginn der Profiling-Abteilung des FBI und nimmt sich viel Zeit für die Gespräche mit den Serienmördern. „Once upon an Time in Hollywood“ (2019, Tarantino) findet man bei Amazon Prime, und das Buch von Karlene Faith heißt: “The Long Prison Journey of Leslie Van Houten: Life Beyond the Cult“ (Northeastern University Press, 2001)