Filme und Serien

„Good Will Hunting“ – ein Film von Gus van Sant

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©️Miramax Pictures

Gestern hört ich beim Radfahren ein Interview mit Yuval Harari, dem Universalhistoriker und öffentlichen Intellektuellen. Er ist ein guter Wissenschaftskommunikator mit breitem Wissen, und ein bereichernder Begleiter, wenn auch als Vielredner manchmal anstrengend. Danach aber rumorte die im Interview aufgebrachte Frage nach dem Sinn des Lebens weiter in meinem Kopf. Religionen antworten darauf, mal mehr, mal weniger flexibel, und im aktuell weit verbreiteten Individualismus wird die Frage vielleicht wie eine Rollenfindung in einem Script behandelt: Wenn das Leben Hamlet spielt, bin ich dabei die Königin?

Wie aber würde ich eine Antwort geben, wenn ich gefragt würde? Gerne breche ich in meiner Arbeit als Psychotherapeutin solche Fragen herunter auf alltägliche Situationen. Ausgehend von dem, was mir der gegenübersitzende Mensch ohne großes Allgemeinwissen erzählen kann, frage ich weiter und weiter, höre darauf, welche Themen oder Spannungen darin zum Ausdruck kommen, was nicht explizit gesagt wird, was man befragen sollte und was man vielleicht ein wenig anders sehen oder machen kann. Was aber in meiner Arbeit dabei umfassend und grundsätzlich sinngebend wirkt, ist die gemeinsam gestaltete, reale menschliche Beziehung. 

Der Mensch wird geboren, ohne alleine überleben zu können, er ist lange auf anderer seiner Art angewiesen und könnte nicht überleben, würde er nicht eine dyadische Beziehung eingehen. Eine Beziehung, in der er sich als abhängig erlebt, aber auch als getragen und unterstützt und er kann diese Beziehung innerhalb seiner Möglichkeiten in einer Entwicklung gestalten. Auf andere angewiesen zu sein ist eine Urerfahrung, die ein Einzelwesen tiefgründig prägt und mit der sich dieses sein Leben lang auseinander setzt. 

Es gibt viele Filme, die das Zusammenkommen zwischen zwei Menschen explizit thematisieren und in einigen geht es dabei auch um die Behandlung einer seelischen Störung. Im Film „The King`s Speech“ z.B. wird die erfolgreiche Behandlung des Stotterns des englischen Königs Georg VI durch einen australischen Sprechtherapeuten beschrieben, die nicht unwesentlich auf der besonderen Beziehung der beiden beruht. Der hier empfohlene Film „Good Will Hunting“ (1997) ist allerdings doppelt gut für das Thema geeignet, denn es geht um die frühe Bindungsstörung eines jungen Mannes, die im Erwachsenenalter mit Hilfe einer Bindung behandelt wird. 

In dem insgesamt eher herkömmlich inszenierten Film geht es um den jungen Hilfsarbeiter Will (Matt Damon), der als Waise in einem Freundeskreis eine feste Stütze gefunden hat, aber auch oft Probleme hat, seine Gewaltausbrüche in den Griff zu bekommen. Seine mathematische Spezialbegabung zeigt er in einer Eliteuniversität, indem er nachts auf dem Flur mathematische Probleme löst. Er wird entdeckt und von einer drohenden Haftstrafe entbunden, wenn er sich sowohl mit einem Matheprofessor als auch mit einem Psychotherapeuten regelmäßig trifft. Eine Entwicklung wird in Gang gesetzt, in der es um den Aufbau von Beziehungen geht, parallel gezeigt in mehreren Zweierkonstellationen. Zentral ist dabei die Arbeit des Psychologen Sean McGuire (Robin Williams), der sich auf einen intensiven Austausch mit Will einlässt. Beide gestalten diese Begegnungen mit vielen Preisgaben, aber auch mit seelischem Gewinn. Der Psychologe lässt Will oft an seinem inneren Weg teilhaben und gerade das bewirkt Veränderungen. Parallel dazu erlebt Will seine erste Liebesbeziehung und gerät dabei in die Themen Annäherung, Vertrauen, Abhängigkeit und Angst vor Verlassenwerden. 

In Wills ersten Treffen mit Sean macht dieser alles richtig um den Kontakt zu Will herzustellen (ruhige Grundstimmung, keine starken Affekte zeigen, Gemeinsamkeiten suchen, auf Themen des Patienten eingehen, keine Ironie verwenden). Will aber ist von Anfang an nicht in der Lage sich zu öffnen und sucht nun in Seans Zimmer nach Ansatzpunkten, um das Gespräch auf diesen zu lenken und ihn zu beeinflussen, eventuell um wieder, wie schon bei den Kollegen, weggeschickt zu werden. Über ein von Sean gemaltes Bild rekonstruiert Will klug interpretierend dessen Einsamkeit und Trauer und wirft ihm daraus abgeleitet Deutungen an den Kopf, immer weiter, bis er am Ende sagt, er habe die falsche Frau geheiratet, sie habe ihn wohl mit jemandem betrogen. Sean kann sehr lange diese verbalen Schläge professionell abfedern, schließlich aber würgt und bedroht er Will. Beide werden in Nahaufnahme gezeigt, mit wütend-leeren Gesichtern, der Kontakt ist entgleist und es kommt zu einem Zusammenbruch der Beziehung. Der Film zeigt danach noch den Wechsel von Wut in Traurigkeit in Seans Gesicht und es wird ausgesprochen, dass er ihn weiterbehandeln wird.

Will kommt zum nächsten Termin wieder und Sean macht etwas Bemerkenswertes. Er erzählt ihm, wie er selbst mit Wills Verletzungen umgegangen ist, dass er lange nicht schlafen konnte, aber irgendwann verstanden habe, dass Will nicht wisse was in ihm, Sean, vorgehe, da er seine Lebenserfahrung nur aus Büchern erworben habe, und kaum eigene Erfahrungen über Liebe, Bindung und große Nähe zu einer Frau habe. Und entsprechend wisse er selbst auch nicht, wie es für Will gewesen sei, als Waise aufzuwachsen, nur weil er mal Oliver Twist gelesen habe. Im Grunde hält er einen Vortrag zum Thema Einfühlung, und dass er selbst nicht wissen könne, was in Will vorgehe, wenn dieser es nicht wagt, etwas von sich zu erzählen. Es ist ein Weg, Will zu zeigen, wie man mit einer großen Komplikation in einer Beziehung umgehen kann, und wie es danach weitergehen kann, z.B. mit Verstehen-Wollen und mit einem Gesprächsangebot. Im weiteren Verlauf der Gespräche werden Themen wie Bindungsangst, Schuldzuschreibung und Umgang mit Traumatisierung behandelt, auch Trennungen bekommen ihren Raum, aber immer innerhalb der gemeinsam gestalteten Beziehung.

Die anderen Zweierkonstellationen des Films sind Varianten zum Thema menschliche Bindungen und was diese aushalten können. Wills bester Freund Chuckie (Ben Affleck) gibt ihm Halt und Beständigkeit, aber er wünscht sich auch, dass Will mehr aus sich und seinem Talent mache, und als er Will davon erzählt, kann dieser sich damit leichter lösen. Das Mädchen, in das sich Will verliebt (Minnie Driver), begegnet ihm auf seinem Terrain, scherzt mit seinen Freunden und geht mit ihm zum Hunderennen, aber sie will auch mehr, fragt nach seiner Familie, will ihn besser kennenlernen und fordert, dass er weitere Schritte in die Intimität mit ihr mache. Gerry (Stellan Skarsgard) als Seans Studienfreund hat mehr Ehrgeiz als dieser, aber er konnte seinem Freund in der Trauer nicht beistehen, ihre unterschiedlichen Charaktereigenschaften werden deutlich, aber sie können am Ende damit leben.

Der Film endet mit großen Wagnissen, sowohl Sean als auch Will machen sich auf eine Reise mit offenem Ausgang, Sean möchte aus seinem selbstgebauten seelischen Gefängnis herauskommen, Will sucht sein geliebtes Mädchen. Im November 2020, aber auch zu anderen Zeiten kann man Filme sehr genießen, in denen der Mehrwert menschlicher Bindungen und Kontakte bebildert wird und man im Miterleben einer Geschichte sich deutlich machen kann, dass der Mensch im Tiefsten ein soziales Wesen ist.

Wer etwas zur Bindungstheorie lesen möchte, dem sei Peter Fonagy (z.B. „Bindungstheorie und Psychoanalyse“) empfohlen, aber man findet dieses Thema in allen modernen psychotherapeutischen Konzepten. Intersubjektive oder relationale psychodynamische Behandlungskonzepte greifen die hier angesprochene Vorgehensweise auf, das Innere des Behandelnden zur Verfügung zu stellen und nicht in einer unbeweglichen Abstinenzauffassung stecken zu bleiben. Zur Diagnostik: Die Darstellung der Hauptperson entspricht nicht einer Asperger-Symptomatik, es ist eher eine  spätadoleszenten Identitätskrise bei frühkindlicher Bindungsstörung mit mathematischer Hochbegabung. 

„Good Will Hunting“ (1997) von Gus van Sant nach einem Drehbuch von Ben Affleck und Matt Damon ist zu finden z.B. bei Amazon Prime, ebenfalls empfehlen möchte ich „The Kings Speech“ (2010) von Tom Hooper, Colin Firth als englischer König und Geoffrey Rush als Therapeut. Yuval Hurari sprach im ZEIT- Podcast „Alles Gesagt“ sehr ausführlich zum Thema „What is the Meaning of Life?“ mit Christoph Amend und Jochen Wegner. 

Forschung

„Wiederkehr der Kindheit?“ – ein Vortrag von Jakob Müller

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®Edith Buchhalter 2007

Menschen in der Sterbephase als Gegenstand einer psychoanalytisch-empirischen Untersuchung – dies rief zwiespältige Gefühle in mir wach. Die Kombination von Empirie und Psychoanalyse ist eher selten, machte mich also neugierig, der Prozess des Sterbens aber ist ein Thema, um das man gerne einen großen Bogen macht. Psychologisch gesehen kann man beim Tod eines Menschen bestimmte seelische Bewältigungsmechanismen genau beobachten, es gibt Überaktivisimus, Distanzierung, Ratlosigkeit, scheiternde Sublimierungen, Technokratisierungstendenzen und vieles mehr. Aber in der Beschäftigung mit dem Thema rückt auch sehr nahe, dass das eigene Sterben unabänderlich ist, eine oft im Alltag verdrängte Tatsache.

Jakob Müller spricht zu diesem Thema in seinem hier empfohlenen Vortrag mit einer überzeugenden Mischung aus klarer Darstellung des wissenschaftlichen Bezugsrahmens (Bindungstheorie) und der empirischen Vorgehensweise (teilnehmende Untersuchung auf der palliativmedizinischen Station eines Krankenhauses) sowie einfühlsamer Einzelfallschilderung. Kindheit und Sterbephase werden von ihm in verschiedenen polaren Dimensionen miteinander verglichen, hinsichtlich Aktivität – Passivität, Vertikalität (wer steht oben, wer liegt unten?), Analität (Kontrolle der Ausscheidungen), Oralität (kann man sein Essen selbständig zu sich nehmen?), und Sauerstoffversorgung (Nabelschnur und Beatmungsgerät). Sehr interessiert hat mich dabei die dezidierte Aussage, die Sterbephase ähnele der Kindheit in zwei entscheidenden Aspekten: seelische Grundkonflikte werden virulent und dyadische Beziehungen treten in den Vordergrund. Der triangulierende Raum verschwinde immer mehr, so wie er umgekehrt in der Kindheit von Anfang an fortschreitend in der Entwicklung erobert und gestaltet werden musste.

Kindheit und Sterbephase auf diese Art und Weise zusammen zu sehen eröffnete neue Sichtweisen. Die Sterbephase als eine traumatische Situation reaktiviert früh erworbene Bindungsmuster, die ja gerade in unsicheren Situationen deutlich hervortreten. Bindungstheoretisches Wissen kann daher hilfreich sein, diese Bindungsstile zu erkennen und damit umzugehen. Ausgehend von der Hypothese der Zeitlosigkeit von Mustern und Strukturen werden frühere Schichten freigelegt, es kommt zu regressiven Verhaltensweisen. Aber es sind auch rückwirkend korrigierende Erfahrungen möglich, die frühen Erfahrungen werden womöglich anders erinnert und in den Beziehungen zu Angehörigen und Betreuenden können Veränderungen ausprobiert werden: Distanzierungen überwinden, Schwäche zeigen, eigene Bedürfnisse deutlicher äußern und anderes mehr.

Sehr lebendig werden all diese Erkenntnisse im Vortrag durch den mit viel Wärme und dennoch professioneller Distanz geschilderten Einzelfall, dem Sterbeprozess eines Mannes, dem gegen Ende seines Lebens durch die Gestaltung des Sterbeprozesses auf der Station neue Begegnungen mit nahestehenden Menschen ermöglicht wurde.

Die Beschäftigung mit Bindung in der Sterbephase machte mir auch eine ganz spezielle Paradoxie spürbar. Die Mutter stellt in der Kindheit ein Versprechen dar: ich mache etwas zu essen für dich, ich halte dich warm, ich bin da, auch wenn du mich nicht siehst und du kannst beruhigt einschlafen, denn morgen früh wachst du wieder auf. In der letzten Lebensphase ist es eine große Herausforderung, zu den Sterbenden eine versorgend-warme, haltende, vielleicht sogar neue Aspekte anbietende Beziehung aufzubauen in dem klaren Wissen, dass der Tag, an dem der Sterbende nicht mehr aufwachen wird, greifbar nahe ist.

Den Vortrag empfehle ich auch, da in der heutigen säkularisierten Kultur psychotherapeutisch Tätige oft mit Aufgaben betraut sind, die eher seelsorgerischer Natur sind. Man kann es daher gut gebrauchen, sich mit dem Thema Sterben beschäftigt zu haben, denn es ist in vielen Behandlungen ‚mit im Raum‘, sei es dass jemand schwer erkrankt, Eltern sterben, Todesfälle in der Lebensgeschichte eine Rolle spielen oder eine Berufstätigkeit in diesem Bereich besteht.

Dr. Jakob Müller ist Dipl.-Psychologe und Psychoanalytiker und sein Vortrag, basierend auf seiner Dissertation, wurde gehalten am 05.10.2019 im Rahmen der Herbstakademie der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft an der Universität Heidelberg. Er ist hier als Podcast zu hören und die Buchveröffentlichung zur Dissertation mit dem Titel „Bindung am Lebensende“ (2018) ist hier zu erwerben.