„The Capture“ – eine TV-Serie von Ben Chanan
Veröffentlicht amLondon ist die westliche Großstadt mit den meisten Überwachungskameras. Die bildliche Erfassung ist annähernd lückenlos, aber dennoch gibt es einige tote Winkel, in denen etwas geschehen kann, das den Überwachungssystemen entgeht. Könnten dies schwarze Löcher der Freiheit sein? Schlupflöcher für Widerständler?
Die Serie „The Chapture“ (2019) von Ben Chanan macht dies zum zentralen Thema und zieht den Zuschauer in ein symbolisches Geflecht hinein, in eine Verschwörungsgeschichte mit mehreren Ebenen, in der Einteilungen in Freund und Feind, in Gut und Böse hinterfragt werden. Dabei sieht man einprägsame Bilder zu den Verstrickungen und Schädigungen, in die man als Soldat im Auslandseinsatz geraten kann. Oder Szenen, in denen die gezeigten psychologischen Manipulationsmethoden die Zimmertemperatur vor dem TV-Gerät um einige Grade sinken lassen. Psychologisch gesehen geht es dabei um die tiefsitzende, meist unbewusste Kränkung des nach Perfektionierung strebenden Menschen, dass es etwas Lückenloses in der Realität nicht geben kann, immer verhält sich jemand unvorhersehbar und es entsteht ein toter Winkel, aus dem heraus sich der Fortgang eines Geschehens plötzlich ändern kann.
Eingepackt ist dies alles in die Geschichte eines britischen Afghanistan-Heimkehrers, der der Tötung eines unbewaffneten Gegners verdächtigt wird, aber freikommt, da das Infomaterial mit einer Zeitverzögerung behaftet ist und sich dadurch der Ablauf vor Gericht anders darstellen lässt. Aus der U-Haft entlassen wird er, wieder anhand eines Videos, eines Mordes verdächtigt, was eine Kette von Ereignissen in Gang setzt, in deren Verlauf kaum ein Bild das bleibt, was es gewesen ist. Währenddessen lernt man, was ein Deep Fake ist und was es leisten kann, was Stitching bedeutet und wie es eingesetzt werden kann und am Ende muss man schlussfolgern, dass man 2020 keinem reproduzierten Abbild der Realität mehr trauen kann.
Grossbritannien kämpft derzeit mit grossem Rissen und Spaltungen in der Gesellschaft. Vielleicht gehört dazu auch, dass die BBC ambitionierte Unterhaltungsserien produziert, in denen mit Spannung erzählt wird, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Menschen heute leben müssen. Man fühlt sich erinnert an anspruchsvolle Politthriller wie „Three Days of the Condor“ (1975) oder „Prince of the City“ (1981), mehr noch an Filme wie „The Manchurian Candidate“ (1962/2004) oder Serien wie „Homecoming“ (2019), in denen eine alternative Konstellation der Zukunft geschildert wird, um heute stattfindende gesellschaftliche Prozesse darzustellen und zu verstehen.
In „The Capture“ wird ein 1984-Szenario entworfen, in dem mit den Mitteln der heutigen Videobearbeitung von einem Zusammenschluss internationaler Geheimdienste das Recht in die Hand genommen wird. Es werden Videobeweise geliefert, um Täter, von deren Schuld man überzeugt ist, die man aber nicht beweisen kann, anklagen und verurteilen zu können. Dies kann in einer unbeherrschbaren Realität mit internationalen Verbrecherorganisationen ein Weg sein, die demokratische Ordnung zu sichern – oder etwa nicht? Wenn solche inneren Diskussionen über politische, soziale oder psychologische Fragen von Genrestücken in Gang gesetzt werden, hat meiner Meinung nach ein unabhängiges Fernsehen in einer Demokratie seinen Bildungsauftrag erfüllt.
„The Capture“ (BBC One, 2019), geschrieben und produziert von Ben Chanan findet man bei Starzplay, buchbar über Amazon Prime, 4,99 € monatlich, jederzeit kündbar.
„Homecoming“ (2018) von Sam Esmail mit Julia Roberts bei Amazon Prime, gedreht nach dem gleichnamigen Podcast von Gimlet Media, den man z.B. über Spotify hören kann.
„The Manchurian Candidate“ (2004) von Jonathan Demme kann man bei Amazon Prime leihen, die ältere Filmversion von John Frankenheimer (1962) ebenfalls.
„Three Days of the Condor“ (1975, Sidney Pollack) streamt oder leiht man bei Amazon Prime, ebenso „Prince of the City“ (1981, Sidey Lumet)